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S3 94 Der Rest des Nachmittags und der folgende Mor gen wurden dem Schneider zu einer Ewigkeit. Jedes mal, wenn er den Tritt eines Pferdes in der Straße vernahm, rannte er an die Thürschwelle und erwartete eine Stafsete vom Polizeiminister ankommen zu sehen. Doch die Nacht kam heran, ohne daß Jemand irgend eine Antwort vom Herzog von Otranto gesehen hatte. Der folgende Tag führte eben so wenig bessere Nachrichten herbei. So verstrichen vierzehn Tage. Johann Rifolv, gänzlich cntmuthigt, den sich so zuverlässigst geträumten Wechsel seines Glücks verschwin den zu sehen, dachte ernstlich darauf, daß es besser sey, in die Provinz nach Tours zurückzukehren, als sich in Paris vollends zu Grunde zu richten. Sein ganzer Stolz empörte sich zwar bei dem Gedanken, mit sol chen gescheiterten Plänen und vernichteten Hoff nungen wieder zu seinen Landsleuten zurückzukehrcn; er, der bei seinem Weggehen so hochfliegend gewesen und nun so gedemüthigt heimkehren sollte. Die Ar- muth brach aber zu schnell herein, als daß er nicht daraus hätte bedacht seyn sollen, ihr zu entfliehen. Den folgenden Morgen erklärte er daher seiner Frau mit zerrissenem Herzen, daß er sein in Paris errichtetes Geschäft aufgcbcn würde. Er schickte sich in der That bereits an, zu seinem Hausherrn zu gehen, als ein Dragoner zu Pferd in starkem Trab hcraneiltc, vor dem Laden anhiclt und dem betroffenen Nifolv einen jener großen Briefe e!n- händigtc, deren riesige Umschläge nur ministeriellen Bot schaften angeboren. Rifolv hätte in diesem Augenblick zehn Jahre sei nes Lebens hingegeben, wenn er hätte lesen können. Unglücklicherweise thcilte auch Agathe die Unwis senheit ihres Mannes. Der Schneider war daher ge- nöthigt, außer Athen: bis zum Pont-Neuf zu laufen, um zu Meister Rigois seine Zuflucht zu nehmen, denn keiner von Nisolö's Nachbarn hatte ihm so viel Zu trauen eingeflößt, um ihn in seine Angelegenheiten ein- zuwcihcn. Rigois griff gleichgültig nack dem Briefe den ihm Rifo'.v mit zitternder Hand darreichte, erbrach ihn und laS, nachdem er zuvor seine Nase mit ein Paar Au gengläsern, von denen man bereits weiß, bewaffnet hatte, was folgt: „Meister Johann Rifolö hat Morgen früh um sieben Uhr vor dem Herrn Polizciminister zu erscheinen, um das Maas zu einem Kleihe zu nehmen/' Risolä glaubte vor Freude über die Kunde von einer Gunst, auf die er längst nicht mehr gezählt hatte, ohnmächtig zu werden. Ihm lam cs vor, als stiege er unmittelbar aus der Hölle in das Paradies. Er nahm den Brief, hob den Umschlag auf, warf einen Sechslivrcsthaler auf Rigois Schreibtisch und eilte noch schneller zu seiner Frau zurück, als er sie ver lassen hatte, welcher er, sobald er sie von fern erblickte, entgegen rief: „Nun ist unser Glück gemacht, Agathe!'- Sie streckte ihm die Arme entgegen und beide um armten sich mit einem Entzücken, das die Nachbarn vermuthcn ließ, sie hätten eine Quinte in der Lotterie gewonnen. Nach Empfang des beglückenden Briefs war nicht mehr die Rede davon, Paris zu verlassen und nach Tours zurückzukehren, cs mußte im Gegentheil ein prachtvolles Waarenlager eingerichtet werden, das des erhabenen Kunden würdig war und dessen Name in goldenen Buchstaben auf dem Aushängcschilde prangen sollte. Was aber noch unerläßlicher war, die Gunst zu verdienen, mit welcher der Minister den Touräncr beehrte und bei dem den folgenden Tag stattfindcndcn Zusammentreffen das Wohlwollen Sr. Excellcnz zu gewinnen. Nisolö schloß die ganze Nacht kein Auge, so sehr beschäftigte ihn der Gedanke, sich bei einer so vorneh men Person cinzufinden. Ec studirte die Bcgrüßungs- formel, er wiederholte sich die Worte, die er sagen würde, er fühlte, wie sein Herz vor Rührung und Furcht bei dem Gedanken schlug, daß seine Schccre und seine Nadel vielleicht an einem Ministerklcidc ar beiten würden, an einem gestickten Kleide, an einem Kleide, das vom Kaiser gesehen würde! Bedarf noch hinzugefügt zu werden, daß er schon um drei Uhr Morgens auf den Beinen und schon vor fünf Uhr fertig war, sich mit der grüßten Sorgfalt rasirt, malerisch srisirt, seine elegantesten Beinkleider, seidene Strümpfe, ja überhaupt seine schönsten Klei dungsstücke angelegt und den Hut in der Hand hatte, um nur noch den schon Abends zuvor auf Punct sechs Uhr bestellten Miethwagcn zu erwarten? Als endlich dieser Wagen angckommcn, umarmte Rifol» seine Frau, die ihn bis zur Hausthüee beglei tete, ihm den Wagentritt aufscklagen half, und gerührt, ja sogar trübe, zurücktrat, indem sie zu Gott flehte,