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77 78 der Herberge der Frau Wang. Hier vernahm er zu seinem Leidwesen, daß man die Doktorprüfung erst in sechs Monden machen dürft. Schon war er Willens, wieder in seine Heimath zurückzukehren, allein der Weg war sehr weit, und seine Mittel waren erschöpft. Er war sonach gezwungen, in Peking zu bleiben und das Rigorosum abzuwarten. Seine Gemahlin hielt sich den ganzen Tag über in einem Gemache des ersten Stockwerkes auf und beschäftigte sich mit Verfertigung von Blumenschmuck zu Ohrgehängen und Schuhen, wornach sie ihre Kunsta beiten zum Verkauf austrug und solcher Art die Mittel der Subsistenz herbei schaffte. Der bezeichneten Herberge gegenüber wohnte in dem Hause des Herrn Lschou um dieselbe Zeit ein Li- centiat, mit Namen Pao-Hong-Jn. Die schöne Gestalt der Frau Hiu blendete sein Auge, denn ihr Jncarnat verdunkelte die Blüthen des Psirsichbaums und bewog ihn, über die näheren Verhältnisse dieses jungen Frauen Hildes Erkundigungen bei der Wirthin Wang einzu- zichen. „Sie ist," antwortete diese, „die Gemahlin des Baccalaureus Pvn." „Ich trage das sehnlichste Verlangen," entgegnete Pao, „mich nur einen Augenblick mit ihr zu bespre chen; könntet Ihr mir wohl die Gelegenheit hiezu ver schaffen?" Frau Wang errieth sogleich die geheime Absicht des Pao, und ersann unverzüglich eine Kriegslist. „Mein Herr!" erwiederte sie, „Ihr sollt von mir noch besser berathen und bedient seyn. Dieser Bac calaureus ist gegenwärtig alles Geldes entblößt, und wird wenig Anstand nehmen, sein Weib zu verkaufen, um nicht des Hungers zu sterben." „Wenn das so ist," sagte Pao, „so überlasse ich Euch ganz die Sorge dieser Angelegenheit, und gebe im Voraus meine Zustimmung zu all den Maßregeln, welche Ihr in dieser Hinsicht nehmen werdet." Frau Wang dachte an nichts weiter, als daß der Baccalaureus Pong ohne alle Baarschaft und noch überdies die Miethe für sein Zimmer schuldig sey, und begab sich unverzüglich nach dem ersten Stockwerke hinauf, um der Frau Hiu einen Besuch abzustatten. Sie traf sie an der Seite ihres Gemahls. Sie wände sich zu Herrn Pong und sprach: „Sie würden recht wohl daran thun, mein Herr, wenn Sie sich vor das Südthor des kaiserlichen Pallastes be geben wollten; denn dort würden sie Gelegenheit fin den, Anschlagezettel zu schreiben, und sich einige Hülfs- quellen zu verschaffen." „Frau Wang mag ganz recht haben," siel Hiu ein, „ich bitte Dich, lieber Mann! mach' Dich sogleich auf und begib Dich dahin." Jng-Fong gab dem Zudringen der Frauen nach, steckte einen Griffel zu sich und ging nach dem Süd- thore des Pallastes, um dort als Copist Arbeit zu fin den. Es währte nicht lange, so trat ein Ofsicier des kaiserlichen Observatoriums zu ihm und fragte, ob er ein Calligraph wäre. Auf seine bejahende Antwort führte er ihn nach dem kaiserlichen Observato ium und stellte ihn Seiner Hoheit dem Mandarin Li vor, der ihm den Auftrag ertheilte, nach der Gallerte des We sten zu gehen, um dort Rapporte zu copiren„ die un mittelbar an den Kaiser stylisirt waren. Des Abends kehrte er nach seiner Herberge zu rück, und sprach zu Frau Wang und zu seiner Ge- mahlin: „Seyd bedankt für Eure Weisung, denn es ist mir gelungen, in das kaiserliche Observatorium zw kommen, wo mich Seine Herrlichkeit Li mir Abschrei ben von Actenstücken beschäftigt hat." „So fügt cs sich ja höchst wunderbar mit uns," entgegnete seine Gemahlin; „es steht nun einzig bei Dir, Dein Glück auch sestzuhalten mit Fleiß und Eifer." Bei diesen Woten war Frau Wang fast außer sich vor Freude. „Herr Pong," sagte sie, „Seine Herrlichkeit der mächtige Li liebt und schätzt fleißige Leute. Wenn Ihr morgen nach Eurer Schreibstube zurückkehrt, so verlaßt sie mindestens einen ganzen Monat nicht, das wird Seiner Herrlichkeit höchlich gefallen, und er wird Euch etwas später, wenn Ihr um ein Amt ansucdct, mit seiner hohen Protection huldvoll bchülflich seyn. Eure Gemahlin bleibt fortwährend bei mir, und Ihr könnt in Betreff ihrer ganz unbesorgt seyn." Jng-Fong ließ sich bereden, führte seinen kleinen Sohn mit in seine Schreibstube, und kam weder am nächsten noch in den folgenden Tagen in die Herberge der Frau Wang zurück.