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187 188 Durch diesen unbestreitbaren, im Allgemeinen oft beklagten, aber unvermeidlichen Zustand der Dinge, durch diesen lebenfördernden Schein von Gleichheit aller Glie der der Gesellschaft, hat sich die Schneiderei überall zu einer Bedeutenheit cuiporgcschwungen, wovon unsre Großväter keine Ahnung hatten. An den Schneider meister im ärmsten Dorfe und in der entlegensten Ge gend werden jetzt stündlich Anforderungen laut, wie solche früher kaum der Schneider in den großen Städten vernahm: wer ihnen nicht entsprechen kann, oder nur althandwerksmäßig entsprechen will, der kommt ins Hintertreffen und von da sehr schnell in einen sehr ver drießlichen Ruhestand, ohne Gehalt und ohne Pension. Der frühere Handwerksgriffs, die frühere Unbe fangenheit eines mechanisch vererbten und eingelernten Schlendrians, die liebenswürdige Bescheidenheit, sich mit zehn durch Quadratnetze ärmlich nachgezeichnetcn Pa tronen für das ganze Leben zu begnügen und über solche zehn Kämme alle Kunden gleich zu scheeren, reicht für die neue Zeit nicht mehr aus. Die Modetrachten sind nun sämmtlich so beschaffen, daß gar nicht mehr davon die Rede seyn kann, sie bequem für diese oder jene Klasse zu generalisiren, und wenn man den Schnitt und die Bearbeitung im Allgemeinen nothdürftig er lernt hat, seine Generalpatrone und die Maaase ruhig und gemächlich der Werkstätte zu überlassen, bis nach zwei Jahren vielleicht eine neue Patrone gekauft wer den muß, sondern die 20 gleichzeitig erscheinenden und durch alle Klassen sich schnell verbreitenden, oft nach zwei Monaten schon wieder veralteten Moden, müssen für jeden einzelnen Kunden mit Umsicht und Berück sichtigung von Gewohnheiten und besonderer Körper beschaffenheit immer und überall rein individualisirt wer den. Dieselbe Modeform für H erfordert in Schnitt, Besatz und Bearbeitung ganz andere Dinge, als wenn sie für R gefertigt werden soll, indem die richtig getrof fene Modeform allein nicht mehr genügt, sondern diese auch jedem Einzelnen gut sitzen und ihn möglichst gut kleiden soll. Jeder gegen Regelmäßigkeit in Wuchs und Bau verkommende Körperfehler, welcher vordem gar nicht berücksichtigt wurde, soll jetzt, so weit cs immer möglich ist, durch jede beliebige Modctracht so sehr ver deckt und maskirt werden, daß alle Unregelmäßigkeit scheinbar verschwinde, Regelmäßigkeit in Wuchs und Bau scheinbar sich zeige. Ist es etwa nicht also? Muß nicht jeder gebildete Meister beim flüchtigsten Anblick jeder neuen Mode dies als die Aufgabe der modernen Schneiderei eingestehen? Müssen nicht, ohne Anerkennung dieser Aufgaben, unsre Modetrachten mit den tiefen Halslöchern, langen Achsel stücken, knappen Aermeln, so kurzen und so langen Taillen, schmalen Vorderhosen :c. unter hundert Kun den sünfundneunzig lächerliche Mißgestalten hervorbrin- gen, burleske Karikaturen erzeugen? Ist eine Möglich keit vorhanden, mit der Kunst des alten Schlendrians jetzt noch der Kundschaft nur einigermaßen zu genügen, wo nicht Gehülfen an den Zuschneidetisch und aus den Arbeitstisch kommen, welche die Meister und Lehrer des Meisters seyn könnten? Kann sich je ein Meister in solchem Stand der Abhängigkeit von seinen Gehülfen behaglich, gut und stolz fühlen? Kann sein Loos ein wahrhaft glückliches und förderndes seyn? Dies Alles haben viele Hunderte deulschcr Meister mit uns eingesehen und sich zu Freunden dieses Jour nals erklärt, welches sich stets als ihren eifrigen, treuen Hausfreund bewährt und auch darin sich vorurtheilsfrei und. uneigennützig bewiesen bat, daß es stets freundlich und neidlos auf ähnliche Erscheinungen im Vaterland aufmerksam machte, jeden Fortschritt Anderer in dem Gebiete Ueser Kunst ehrlich pries und ernstlichst zu dessen Kenntnißnahme ermunterte. Indessen begnügte sich damit unser Streben kei neswegs und unfrucbtbar blieb nicht unsre Liebe für die Sache: in demselben Verhältnis wie die Theilnahme an dem Journal sich mehrte, vermehrten sich auch seine Gaben, statt 48 Patronen kamen deren 80 — 90, statt 48 Costumebildern deren 64 — 70; nicht Patronen und Bilder von einem einzigen Journal Londons oder in Paris, sondern von allen geachteten Modeerfindern jener Hauptstädte, ohne Parteirücksicht, zu stets reicher Auswahl für jedes Orts- und Zeit- und Kundenbedürfniß. Daß die Versuche, Originalmoden zu gründen, nicht glückten, bedaurc ich in der That nicht; denn erstreben wir einmal etwas wirklich Deutsches auch in der Klei- dertracht, so darf es nicht ü l'^nAlg'isc oder ü la 1'runya'we, sondern es muß etwas Rein-Deutsches seyn, rein-deutsch in Gedanken und Ausführung, einfach, kleid sam, bequem. — Wie wäre es, wenn wir im künfti gen Jahrgange hin und wieder einen Versuch machten, eine moderne deutsche Tracht für die verschiedenen Ver hältnisse zu ersinnen? Nicht mittelalterlich, denn der gleichen soll hinter uns bleiben, sondern unserm Geist und unfern Constellationen angemessen. Ein Anfang durch Bilder wirkt auf die Masse mehr und schneller,