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Die Zergliederung der Werzierungskunft. Nack V. K. Die innige und unzertrennliche Verbindung zwischen der Verzierungskunst und dem Verkaufspreis eines großen Theils von Gebrauchsgegenständen stellt die Wichtigkeit des Versuchs in's Licht: ein gewisses Sistem in das Kennenlernen der verzierenden Form oder des ausschmückenden Musters zu bringen, ganz ab gesehen von der wohlthätigen Wirkung einer weitverbreitete» Verehrung für das Schöne auf die Sitten der Gesellschaft. In zwischen so wünschenswerth dieser Zweck uns auch erscheint, so erinnern wir uns doch keines Versuches zu seiner Erreichung. Unbestritten ist cs aber, daß wir keinen dauernden Fortschritt in diesem Zweige der Kunst zu machen im Stande sind, ehe wir dieselbe aus eine feste Grundlage gestellt und dadurch zu einer Stätigkeit gebracht haben, die es gestattet, daß man sie wissenschaftlich zu behandeln vermag. Denn nur aus diese Weise hat man sie in Händen und ist sie unabhängig von der Mode und den Grillen der Tagsliebhaberei zu machen, wodurch Gegen stände, die der Verzierung unterliegen, einen äußerlichen und ver gänglich augenblicklichen Werth erhalten, anstatt eines inner», bleibenden. Betrachten wir die Methode der Schule, so finden wir, daß wir materiell weil entfernt sind zum Ziele zu gelangen, nämlich zu einer wissenschaftlichen Sicherheit. Es ist ziemlich klar, warum dies so sein muß. Denn vor der großen Ausstel lung dachte man in England sehr wenig über Wesen und An wendung von Grundsätzen bei Verzierung von Gegenständen nach. Die bislang gangbaren Regeln konnten daher nichts Anderes, als Verkrüppelung und Geschmacksverschlechterung zur Folge haben. Nach der bis zu diesem Augenblick eingeführlen Praxis in Schu len ist der Geschmack des Schülers größtentheils ein Abklatsch der persönlichen Ansicht des Lehrers. Da inzwischen keine Norm besteht, nach der die Richtigkeit oder Irrigkeit der Ansicht des Lehrers abgeschätzt werden kann, und da die Lehrer, wie es die Erfahrung zeigt, in Bezug auf Kunstanschanung sehr weit von einander abweichen, so dürfte man wol berechtigt sei», die Sach- gemäßheit des gegenwärtigen Unterrichts anzuzweifeln. Diese Methode stellt nämlich die bildsame Urtheilskraft lediglich unter die Gewalt des Lehrers, der seinerseits nach Maßgabe seiner Fähigkeit einen Sinn für das Schöne und Angemessene in der Verzierungskunst unter Hinweisung auf gewisse vorliegende Bei spiele entwickelt, und dabei ihre Mängel und Vorzüge hervor hebt. Ist nun des Meisters Urtheil und Geschmack gut, so wird seine Belehrung ohnstreitig von größtem Wcrlhe für den Schüler sein; ist er aber schlecht, so kann es nicht fehlen, daß sich höchst nachtheilige Folgen für de» Schüler zeigen. In beiden Fällen aber wird der Geschmack des Schülers herangebildet durch das Auge, ganz unabhängig oder wenigstens zum größten Theile un abhängig vom Urtheil des Verstandes.^) Diese Schulpraxis, um Musterzeichner zu lehren, ist wahr- ') Im Art-Journal. 2) Daß gründliche UnterwUsung ln den englischen Musterzeichnen schulen unter dem gegenwärtigen Sistem nicht erwartet werden darf, dar über dürfte die Aussage eines Mannes in s Klare setzen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Gegenstand auf's Gründlichste zu durchforschen. Redgrave, von der königl. Akademie, sagt, indem er sich über die Lehrer an diesen Schule» ausläßt: „Die Kunst ist in England individuell empor gewachsen. Jeder Künstler ging seinen eigenen Weg, unbekümmert um den andern. Daraus ist in unseren Künstlern ein unabhängiges Selbst vertrauen entstanden, wodurch sie, indem cs ihnen große Entschlossenheit in Allem gibt, was sie unternehmen, zugleich aber auch unfähig macht, in untergeordneter Beziehung zu wirken, selbst wenn cS höhere Zwecke verlangen, daß sie sich einer hervorragenden Kraft ihres Faches unter ordnen. ! scheinlich dem Atelier des Malers und Bildhauers entnom men. Dort hat man allerdings kein anderes Mittel, um das Knnstgeschick des Schülers zu entwickeln. Denn in schönen Kün sten gibt es keine festen Regeln, anwendbar mit Vorrheil auf die Erlernung von Handgriffen. Aber man muß nicht vergessen, Laß cs eine breite und klar bestimmte Grenzlinie zwischen schöner Kunst und dekorativer Kunst gibt, in deren Folge man wol be fähigt ist, Kunstwerke aus letzterem Gebier einer festen Kritik in Bezug aus Verdienstlichkeit zu unterwerfen, während die Verdienste einer Malerei oder eines Bildwerks von zu zarter Natur sind, als daß man sie abwiegen könnre nach gewissen überkommenen Fvrdersätzen der Kritik. Die Abschätzung des vollen Werthes dieser Klasse künstlerischer Arbeit ist das vorbehaltene Eigenthum eines verfeinerte» und gebildeten Verstandes. Es ist keineswegs hier die Absicht, den Ursprung und die Entwickelung der bestehenden Stile in der Dekorirungs- und Verzierungskunst auseinander zu setzen, oder die Vortheile her- vorzuheben, die aus einer Kenntniß ihrer besondern Eigenthüm- lichkeit entspringen, noch viel weniger gehen wir darauf hinaus, die schwächliche und wirkungslose Anstrengung der dekorirenden Künstler heutigen Tags an's Licht zu ziehen, mit der sie nach Formen Haschen, die entweder zu raffinirt oder zu fantastisch sind, um von moderner Läppischheit annehmbar befunden zu werden. Im Gegentheil, wir wollen nur einen Versuch durch Aufstellung wenigstens einiger fester Grundsätze wagen, mit deren Hülfe der dekorative Künstler vielleicht befähigt werden dürfte, in einer großen Zahl von Fällen, wenn auch nicht durchweg in allen, zu beurtheilen, ob die Behandlung oder der Entwurf einer Musterzeichnung fehlerhaft oder sachgemäß ist. Uns wohnt da bei nicht im Geringsten die Anmaßung bei, der schöpferischen Kraft des Zeichners irgendwie Fesseln anzulegen, indem wir etwa willkürliche oder selbst allgemeine Regeln aufstelle», sondern wir sind im Gegentheil der Meinung, Laß der Musterzeichner nicht minder frei in seinen Schöpfungen sein soll, als der Maler, und Bildhauer. Wir wären daher herzlich geneigt, jene fein ausgcsponnene Theorie der Lächerlichkeit zu überlassen, nach der eine „Schönheitslinie" mit Hülfe von konischen Durchschnitten zu entwickeln ist, um simmetrische Schönheit mittels Zahlen und harmonischer Verhältnißwurzeln zu bestimmen, wenn wir nicht glaubten, daß gerade in Folge der Verbreitung jener Theorie eine Liebhaberei zum Nachdenken über den Begriff des Schönen Platz griffe, wodurch, und in Folge der Vielseitigkeit jener fan tastischen Lehren, selbst die Jrrthümer wieder unschädlich gemacht werden, die, wenn sie einzeln wirkten, gefährlich sein könnten. Auf einem Umweg erhält so das Publikum die Fähigkeit, ein richtiges Urtheil über Schönheit zu fällen, und sie herauszufüh len, i» welcher Form sie auch verkörpert sein möge. Ehe wir unsere analitische Untersuchung beginnen, empfiehlt sich die Feststellung des Unterschieds zwischen schöner und deko rativer Kunst, um völlig klar darüber zu werden, wo die Grenz linie zwischen ihnen liegt; denn die Unklarheit, die hierüber noch ziemlich allgemein herrscht, ist unserer Ansicht nach der Haupt grund, warum in der Verzierungskunst eine so große Geschmacks verwilderung herrscht, wie wir sie durch ganz Europa ausge breitet sehen. Hierbei nehmen wir zunächst Bezug auf eine Aussage des rühmlichst bekannten Herr» Redgrave vor einem Komitü des Raths der Staatsmusterzeichnenschulen in Folge der Anordnung des Unterhauses im Jahre l8L7. Herr Cokcrell von der Kunstakademie stellte die Frage: „Man spricht sehr viel von Kunstprinzipien, es ist schwer 1