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„Wohlan mein Sohn," sprach dieser, „Du bist erwärmt und gestärkt; jetzt zu Deinem armen Vater." Noch einmal wandte er sich beim Abschiede zu Margarethen und zu Oswald: „Lebt wohl, meine Lieben, geht nun schlafen und ängstet Euch nicht, wenn ich ob des argen'Wegs län ger als gewöhnlich ausbleiben sollte. Mit diesen Worten und von den Segenswünschen der Zurückbleibendcn begleitet, folgte der Prediger dem voranschreitenden Heinrich. Es war eine furchtbare Nacht. In wildem Ge stöber trieb der Sturm Schnee- und Eismassen durch die Finsterniß. Nur sparsam leuchtete die Laterne des jungen Landmannes in dem Unwetter. Ihr matter Schimmer erhellte nur wenige Schritte im Umkreis. Bereits lag der Schnee Fuß hoch, kein Weg war zu erkennen, und hier und da hatte der Sturm unergründ liche Schneewehen zusammen getrieben. Bald waren die dunkeln Häuserreihen des Dorfes hinter den mühsam dahin Schreitenden verschwunden. Nach allen Seiten graute eine undurchdringliche Finsterniß. „Heinrich," sprach der Pfarrer, nachdem sie einige Zeit in der Richtung von Hohenstädt gegangen waren, „wir müssen uns mehr rechts wenden, damit wir nicht in die Steinbrüche gcrathen, welche nah am Wege liegen. Ist dir's vielleicht möglich, die Druidcneiche zu erblicken, die uns nicht mehr fern sein kann? Sie wäre ein guter Wegweiser." Heinrich schritt auf diese Worte eine Strecke zur Rechten und Linken und leuchtete überall umher, wäh rend Gotthold nur langsam vorwärts watete, aber die Druidcneiche war nirgends zu erblicken. Immer wilder wurde die Nacht und oft drohte der gewaltige Sturm den bereits sehr ermüdeten bejahrten Mann zu Boden zu werfen. „Die Eiche," sprach zurückkehrend Heinrich, „muß noch vor uns sein, ich habe genau Acht gegeben und würde sie gewiß erkannt haben." Und immer weiter drangen die Beiden vorwärts. „Wenn wir in dieser Richtung fortschreitcnfuhr Heinrich fort, „können wir Hohenstädt gar nicht ver fehlen. Ach, Herr Pfarrer," sprach er nach einer Pause, „wie schmerzt cs mich, Euch in solcher Nacht haben Heraustreiben zu müssen!" „Schweig, mein Sohn," erwiderte Gotthold, „wo Gott ruft, ist es unsre heilige Pflicht, zu folgen; wir wandeln dann nur seine Wege, wie rauh sie immer sein mögen." Aber je weiter sie vorwärts kamen, desto höher ward die Schneedecke, desto mehr nahm die Kälte über hand. Nur mühsam vermochte Gotrhold dem Jüng ling zu folgen. Dieser leuchtete wiederholt nach allen Richtungen, um wo möglich die alte Eiche, die als ziemlich sichre Richtschnur dienen konnte, zu entdecken, als er plötzlich bis an die Brust in Schnee versank. Er hatte un glücklicherweise einen Graben getroffen, der völlig ver weht war. Indem sich der Jüngling mühsam empor arbeitete erlosch die Laterne und dichte Finsterniß um hüllte die beiden Wandrer. „Gott, Gott, mein Sohn," seufzte der ermüdete Pfarrer, „jetzt wird cs doppelt schwer, die Richtung nicht zu verfehlen." „Es ist der Mühlgraben," sprach Heinrich, nachdem er dem Schneegrabe entstiegen war, „wir haben die Brücke verfehlt, sie muß aber ganz in der Nähe sein." Mit diesen Worten watete er eine Strecke zur Rechten. „Hier ist die Brücke, Herr Pfarrer," rief er von neuer Hoffnung belebt, „ich erkenne den wcißangcstrich- ncn Pfahl." Er eilte zu Gotthold zurück und leitete ihn glücklich über die Brücke. „Da haben wir doch die Eiche übersehen," sprack' Letzterer. „Ja wohl," erwiderte Heinrich, „aber bei dieser undurchdringlicbcn Finsterniß ist es kein Wunder. Jetzt lieber Herr Pfarrer," fuhr er bittend fort „folget mir ja Schritt vor Schritt. Wir müssen uns von jetzt mehr links wenden, es war die untere Brücke, über die'wir jetzt gegangen sind, und wir hätten eigentlich bei der obern hcrauskommcn sollen. Wenn wir nur bei den Steinbrüchen vorüber wären." Vom Sturm getrieben wehte jetzt Glockenton an das Ohr der Wandrer. „Das ist die Hohcnstädter Uhr," sprach Heinrich, „es schlug drei Viertel auf Eins. Gott sei Dank, bald sind wir am Ziele. Aber immer mehr schwanden die Kräfte des Geistlichen. Nur mit großer Anstrengung vermochte er mit seinem Führer gleichen Schritt zu halten. Heinrich ging jetzt mit äußerster Vorsicht vorwärts, ein einziger kleiner Abweg konnte ihn abermals in ein tiefes Schnecgrab vergraben. Er bat daher flehentlich den Pfarrer ja nicht von der Bahn zu weichen. Aber alle menschliche Vorsicht ward in dieser un durchdringlichen Nacht zu nichte. Sie waren kaum hundert Schritte vorwärts, als der unglückliche Führer abermals in Schnecmassen versank und dießmal bedeu-