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333 in einen Winkel an einen Tisch. Bald bat sic ein junger Mann um einen Tanz, die Alte nickte bejahend, und Grctchcn genoß zum Erstenmal den Rausch eines Balles, die Lust, mit einem Tänzer auf den Wogen der Musik dahin zu schwimmen. Als sie wieder zu Hause waren, setzten sie sich einander gegenüber, ohne ein Wort zu sagen; Jede machte sich ihre eigenen Ge danken. „Nun, Kleine!" sagte endlich Mama Schnaps, „hast Du nicht Lust, Deinen Spiegel zu befragen?" „Ich bin es schon müde," crwiederte das Herz kranke Mädchen. Mama Schnaps stand lächelnd auf und setzte sich, den Spiegel in der Hand, vor Grclchen nieder. „Sieh' doch her, wie in sechs Monaten Dein Tänzer gegen Dich oder eine Andere sein wird." Gretchen blickte auf und sah einen vom Rauch ge schwärzten, brutal aussehenden Menschen, eine Art von Eyklvpen, mit furchtbar schmuzigem Gesichte, der die geballte Faust ihr mit folgenden Worten wies: „Weib! Ich sagte Dir's schon einmal; wenn ich morgen nach Hause komme und meine Suppe ist kalt, dann magst Du Dich in Acht nehmen." Dieses trostlose Bild war nicht gemacht, das arme Mädchen aufzuheitern, alle Schmerzen, Gefühle und Wünsche der früheren Tage erwachten wieder in ihr, und sie hatte Lust, zu ihrer Großmutter zu sagen: „Mama Schnaps, nehmt Euer» Spiegel wieder, ich mag nichts mehr von ihm wissen, lieber will ich in sechs Monaten von ganzem Herzen weinen, als alle Tage, wie ich es jetzt thue." Mama Schnaps aber hatte crrathcn, was sic nicht auszusprcchen gewagt hatte; denn als sie vor dem Schlafcngehn sie auf die Stirne küßte, sagte sie zu ihr: „Hab' Acht, Gretchen! Du weißt nun schon, wie die Tauben davonfliegen, daß Du nicht siehst, wie ein Glück davonflieht." Trotz dieser Warnung bestand Gretchen auf ihrem Entschluß, der Großmutter den verhängnißvollen Spiegel zurückzugeben. Sic hatte Mißtrauen gegen den Talis- me.„ ru.o g>ng so weit, daß sie ihn des -Lc- truges anklagte. „Denn," so dachte sie, „es ist un möglich, daß alle Männer falsch, alle Schwüre heuch lerisch seien, und daß die reinste Liebe binnen sechs Monaten, wie ein Traum, verschwinde." Nur ein großes Ereigniß vermochte ihren Unglauben zu erschüt tern, und dieses Ercigniß war ein Besuch Theresens, die sie seit drei Monaten nicht gesehen hatte. Therese kam in Gretchcns Kammer traurig und niedergeschla gen; sie drückte Gretchcns Hand an ihren Busen und rief, mit Thränen auf den Wangen: „Ich bin sehr unglücklich!" Das erschrockene Grctchcn dachte gleich an ihren Spiegel, und indem sie ihn im Gedanken unwillkühr- lich mit einer Uhr verglich, rief sie: „Mein Gott! ist er nicht grausam genug, muß er noch um drei Monate vorausgehn?" Therese sehnte sich nach ihren Lotteriespielen, nach ihren unschuldigen Plaudereien an den Sonnabenden zurück, und Gretchen fragte endlich: „Aber was fehlt Dir? Ist etwa Dein Gelieb ter?" . . . „Traue nie den Worten der Liebhaber, der meine liebt mich nicht mehr, er verläßt mich." „Und Bathilde," fragte Gretchen, „und Thekla?" ... Therese antwortete nur durch einen neuen Thrä- nenstrom. Gretchen mußte sich nun gestehn, daß ihr'Spiegel kein Betrüger war, sondern zuweilen die Wahrheit sagte; um so größer aber war ihre Verzweiflung. Was sollte sie thun? Traute sie ihrem Spiegel, so durfte sie nie lieben, traute sie ihm nicht, so sah sie das Schicksal ihrer Freundinnen auch das ihrige werden. Eines Tages, als Mama Schnaps ausgegangcn war und Gretchen sich allein ihren Träumereien über ließ, hörte sie an die Thüre klopfen und öffnete. Wie erstaunte sie, als sie einen jungen Menschen sah, der in der Hand einen Käsig hielt, der mit einem Seidcn- tuche verhüllt war. Der junge Mann war schön, er sah verlegen und doch zugleich glücklich aus, seine Augen vom schönsten Himmelsblau strahlten zwischen zwei langen Wimpern hervor, die ihren Glanz milder ten; seine Wangen waren frisch wie der Frühling; er war ganz das Bild des Jünglings, den sie im Traume gesehen hatte. Er hob das seidene Tuch von dem Käfig, und Gretchen sah drei Tauben, die bei ihrem Anblick mit den Flügeln schlugen. Es waren wirklich die ihrigen, sie erkannte sie an ihren besondcrn Kenn zeichen. Die Erste hatte am Halse ein schwarzes Mal, die Zweite war an einem Flügelende regenbogenfarbig, die Dritte trug ein stolz schillerndes Fedcrbüschel auf der Stirne. „Meine Tauben! meine thcuern Tauben!" rief Gretchen, vor Freude zitternd, „warum verließt Ihr mich, Ihr Undankbaren? Und warum muß man Euch zwingen, zurückzukehrcn?"