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142 bcn, schob er die Jungfrau sachte vom Tragsessel auf das Fußgcstell, vcrtheilte künstlich die Lichter und hob endlich den Seidenschlcicr hinweg, der seine Statue verhüllte. . . Ein Schrei der Bewunderung klang durch die Kirche und Alles siel vor dem Meisterwerk auf die Knie. — „Dies ist wirklich die Jungfrau Marie! Und jetzt kann man nicht mehr zweifeln, daß sie selbst einem so un vergleichlichen Werke als Vorbild diente! Ist dieses Antlitz nicht in der That lebendig und himmlisch? Haben diese Augen nicht einen wirklichen Blick, diese Lippen ein göttliches Lächeln? Haben diese Blumen nicht eben erst sich entfallet? Ist diese ganze Arbeit nicht ein Wunder?" Mehrere Mitglieder der hohen Geistlichkeit allein machten eine Bemerkung. Samte-Marie-des-Fleurs erinnert sie an irgend eine edle Dame, deren Namen sie zwar eben nicht finden können, die sie aber, ihrem Gedächtniß zu trauen, oft gesehen haben. — Tau sendmal glücklich die Sterbliche, die der Königin der Engel gleicht. Indessen hatte Orcagna sorgfältig den Hintergrund der Grotte auf dem Chor verschlossen und beeilte sich, in die Kirche herabzusteigen. Hier vergaß er ganz, daß er sein Meisterwerk aufgeopfert hatte; er ließ seine Liebe den Triumph genießen, der seinem Genie be stimmt gewesen, und kostete das Glück, jene, die er anbetete, von der ganzen Welt angebetet zu sehen. Erst als der Gottesdienst zu Ende war und die Menge aus der Kirche von Santa-Maria ging, kam er wieder zur Besinnung. Sorgfältig verbarg er sich im Schatten eines Pfeilers und lauerte auf den Au genblick, da er endlich allein in der Kirche sein würde; dann schlich er sich auf das Chor, ging auf die Grotte zu und nahm die Statue mit fort . . . Den folgenden Morgen erfuhr die ganze Stadt Florenz, daß die Jungfrau Qrcagna's von ihrem Fuß gcstell verschwunden sei, und da zwei Wunder nicht mehr als eines kosten, glaubte das fromme Volk allgemein, daß das göttliche Werk zu seinem Vorbilde heimge- kchrt, daß Sainte-Marie-des-Fleurs in den Himmel gestiegen sei. Als Buondelmonte diese Nachricht erfuhr, merkte er zu spät, daß er sich hatte täuschen lassen. Er hatte unwiderruflich die Heirath seines Fürsten mit der Gräfin d'Orso geschlossen, und Alles, was er thun konnte, war, dem Fürsten von Lucca zu verheimlichen, daß er sich mit Sainte-Marie-des-Fleurs vermähle. Was Orcagna betrifft, so verschwieg er sein Leben lang das Geheimniß seiner Aufopferung und entsagte für immer der Kunst, in Holz zu schneiden. Boshafte Mystifikation. Eine junge Schriftstellerin hatte es sich in den Kopf gesetzt, auf den Maskenball in der Oper zu gehen. Sie verbarg ihre weißen Schultern unter einer Kaputze von schwarzem Atlas, und um ein Uhr des Morgens brachte sie eine verschwiegene Modehändlcrin an das Thor der Academie Royale de Musique. Sie schlug nun ihr Standquartier am Wärmeplatz (ko^es) auf. Sie hatte bald in Folge ihres Witzes und der Anweisungen, die man ihr gegeben hatte, Gelegenheit, einige Liebesintrigucn anzuspinnen. Vorzüglich intercs- sirte sic ein schöner, junger Mann, der fremd und sehr schüchtern war. Er überließ sich mit bewunde rungswürdigem Vertrauen der geistreichen Unterhaltung der Schriftstellerin; er selbst hatte Geist und Feuer, die Bekanntschaft war so viel als fertig, als einige Bö- sewichter von Journalisten die junge Dame erkannten. Ein teuflischer Gedanke fuhr einem dieser Störenfriede durch den Kopf. Mit achtungsvoller, ernster Miene nahte er sich dem verliebten Paar, das eben in eine Abhandlung über die Metaphysik der Liebe vertieft war. Sanft faßte er die Hand des Domino, bückte sich und sagte der Dame ziemlich laut in's Ohr: „Mara, es ist schon spat, wollen wir nicht nach Hause gehn?" — „Mara!" wiederholte der junge Fremde unwillkührlich, ließ den Arm der Dame fahren und sah erschrocken den beiden, großen Jungens in's Ge sicht, deren ernstes Antlitz auf wenigstens vicruttddrci- ßig Jahre wies. Fünf bis sechs Mal wiederholten die beiden Journalisten diesen schlimmen Spaß auf ver schiedenen Seiten, und sie hatten die teuflische "Freude, vier oder fünf angehende Verhältnisse zu stören. Zwei junge, hübsche Frauen mußten sich demaskiren, um zu beweisen, daß sie keine Großmütter und Matronen waren. — Druck von C. P. Melzer in Leipzig.