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610 Vera. (Russische Siktcnskizze.) Es ist bekannt, daß die Eisberge ein Licblingsver- gnügen des russischen Volkes sind. Selbst die feinere Gesellschaft hat es nicht verschmäht, dieses Vergnügen zu dem ihrigen zu machen. Jeden Winter errichtet man in einem Jnselgarten nahe bei Petersburg — die Arme der Newa bilden hier reizende Inseln — ein hölzernes Gerüst, auf dessen Abhang man Eisblöcke legt, die gut an einander passen. Das Wasser, das auf diese Blöcke gegossen wird und darauf gefriert, verwandelt sich in einen Kitt und bildet ein dichtes, festes Ganze, das so glatt, wird, wie ein Spiegel. Oben auf dem Gerüste befindet sich ein kleiner Salon, von Bänken umgeben, auf die sich die Damen zu setzen pflegen. Die jungen Stutzer kommen hier her auf Schlitten, vor denen hitzige Pferde schnauben und die mit Sammet und Bärcndccken mit vergoldeten Klauen ausgcschlagcn sind. Sie legen ihre Pelzmäntel ab; vor ihnen her schreitet ein Bedienter, und trägt den kleinen Schlitten, der mit einem tapetenartigen Polster geschmückt und ringsum mit Schellen besetzt ist, und den sie. zur Eisfahrt gebrauchen wollen: so erscheinen. sie in dem kleinen luftigen Pavillon; sie tragen einen mit Pelz verbrämten Spencer, ein leich ter und eleganter Anzug, in welchem sie sich vollkommen frei bewegen können. Mit großen Lederhandschuhen angethan, lassen sie es sich angelegen sein, die Damen zur ersten, zweiten oder dritten Fahrt zu engagiren. Man könnte glauben, man sei auf dem Balle, wenn nicht die scharfe, schneidende Luft daran erinnerte, daß man weit entfernt ist von jenen Salons, in denen man, weil es die Mode so mit sich bringt, fast er sticken muß; denn wenn auch die Salons von Peters burg noch so groß sind, so hat man doch Mittel ge funden, die Sitte der „llouts" einzusühren. Man betreibt die Fahrten auf den Eisbergen mit einer förmlichen Leidenschaft, und in der That bietet auch dieses Vergnügen aus mehren Gründen einen mächtigen Reiz: welches Glück, seine Geschicklichkeit vor einer Frau zu entfalten, die man liebt, die man bewundert! Welches süße Gefühl für diese, ihr Leben einem Manne anzuvertrauen, der ihre Seele beschäftigt! Die Gefahr, welche dieses Vergnügen begleitet, ist ein Reiz mehr; denn wir leben in einem Zeitalter, in welchem starke Bewegungen für . uns ein Bedürfnis, geworden sind. Der Walzer reichte nicht mehr aus, man erfand die Galoppade und adoptirte die Mazurka. Nach meiner Meinung aber ist das Vergnügen auf den Eisbergen jenen bei weitem vorzuziehen. Es war köstliches Wetter, der Thermometer stand zehn Grad unter dem Nullpunkte; die Kälte war zwar nicht unerträglich, aber doch stark genug, um jede etwas heftige Bewegung annehmlich zu machen. Der Schnee war misi funkelnden Diamanten übersäet; die Zweige der Bäume, mit Nauhreif überzogen, glichen gepuderten Haaren, oder vielmehr jenen Krystall-Bon- bons bei Bcrthcllemot, deren Anblick so verführerisch ist. Die Schlitten folgten einander mit reißender Schnelligkeit. Die schöne Gräfin Vera Labanosf fährt mit zwei kleinen Kasan'schen Pferden vor, steigt aus ihrem eleganten Wagen, schüttelt die Schneeflocken ab, die auf ihrem Pelzmantel liegen, und läuft hastig die Treppe hinauf, welche auf die Höhe des Eisbergs führt. Ein Kleid von violettem Sammet umschließt ihre schmächtige Taille; eine Boa von Zobel erhöht den Glanz ihres durch die Kälte belebten Teints; ihr hübsches ovales Gesicht ist eingerahmt von einem Hute aus weißem Satin, den sic erst gestern von Herbault erhalten; weiße Federn wiegen sich sanft auf ihrem Haupte und fließen mit der Weiße von Allem, was sie umgiebt, zusammen; ihre zarten Füßchen werden durch Halbsticfeln aus violettem Satin, die mit Zobel besetzt sind, gegen die Kälte geschützt. In dem luftigen Pavillon angelangt, wirft sie hastig einige Blicke um sich und sieht mit Erstaunen, daß die Person, welche sie überall vor sich anzutreffen gewohnt, nicht zugegen ist. Sie unterdrückt einen Seufzer, der sich wegen dieses ungewöhnlichen Verspätens Luft machen will» und setzt sich auf die Bank. Ein junger, äußerst feiner Mann tritt zu ihr und fragt sie, ob sie ihm die Ehre erzeigen wolle, ihm die vierte Fahrt zuzusagen. Sei es nun Vergessenheit, oder sei es Verdruß, sie sagt Ja und engagirt sich zu einer Fahrt, die sie, nach einem alten Uebereinkommcn, mit dem Fürsten Vla dimir Minsk») machen sollte, init welchem sie auch auf allen Bällen die vierte Mazurka tanzte. Der Un bekannte bittet sic um die Erlaubniß, sich so lange neben sie setzen zu dürfen, bis sie an die Reihe kommen würden. Es entspinnt sich zwischen ihnen eine eben so interessante, als lebhafte Unterhaltung. Sie plaudern über Literatur, Reisen, Gewohnheiten. Vera fängt an, Vladimir's Abwesenheit zu vergessen und er innert sich, den schönen Unbekannten auf dem letzten Balle des französischen Gesandten gesehen zu haben.