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lichen helfen, aber nicht, daß man weich werden und Mitleiden mit ihnen haben soll." „Sie haben gut reden, wenn sie behaupten, Mit leid sei eine Folge von Seelenschwäche und Gutmüthig keit, und wenn sie zur Unterstützung dieser Behaup tung sich auf die Kinder und das gemeine Volk be rufen, die leichter gerührt werden, als das kräftige männliche und unbiegsame Herz des reifen Mannes: sie mögen nur hicrherkommen, und ich will doch sehen, wie sie diese Seufzer, diese irren Blicke, diese schmerz lichen, unzusammenhängenden Reden ertragen werden." „Was mich anlangt," fügte La Boötie hinzu, „so bin ich weit entfernt, mich dieses Stoicismus zu rühmen: ich würde mich vielmehr schämen, wenn ich bei den zahllosen Leiden solcher Orte als gleichgültiger Zuschauer verweilen und nicht bei ihrem Anblick ge rührt werden sollte." La Boötie und Montaigne wollten wahrschein lich ihr Gespräch in diesem Sinne weiter fortsetzen, als sie auf einmal darin unterbrochen wurden: die Thür eines Kerkers, deren ungeheure Angeln einen schnarren den Ton von sich gaben, ging ziemlich geräuschvoll auf. Ein Mann, mit Lumpen bedeckt und mehr durch Unglück als durch Alter gebeugt, kam behutsam her aus und sah sich ängstlich um. Sein Bart sowie seine Haare waren in Unordnung, aber nichtsdesto weniger lag in seinen bleichen, welken Zügen etwas Edles und Achtunggebietendes. Gcheimnißvoll näherte er sich den Fremden, zog einen Brief aus seinem Busen hervor und sagte zu ihnen in einem tiefen, feierlichen Tone: „Wenn Ihr Christen seid, so laßt dieses Schreiben in die Hände der Prinzessin Leonore von Este gelangen." La Boi-tie, Montaiane und lächel ten, während der Erste das Papier annahm, um den Wahnsinn des Unglücklichen, der mit ihnen sprach, nicht aufzuregen. „Ich erscheine Euch wahnsinnig," fuhr dieser fort, „Ihr verwechselt mich mit den gesunkenen Wesen, un- rer die man mich geworfen hat! Ach! ich weiß selbst nicht, wie ich meinen Verstand habe behalten können, mitten unter diesen niederträchtigen Qualen, die ich hier ausstehen muß. Aus der Pracht eines glänzenden Hofes warf man mich in einen faulen Kerker; den süßen Illusionen des Ruhms, der Freundschaft und Liebe entriß man mich, um sieben Jahre einsam, oder unter Wahnsinnigen und Verfolgern zu vertrauern, das vcrhängnißvolle Geschenk des Genius und den an meinen Namen gefesselten Ruhm zü verfluchen!... O! wer vermag ein solches Dasein zu ertragen?... Im Namen der Mutter Gottes!" rief er aus, indem er Montaign e's Knie umfaßte und mit seinen Thra- nen benetzte, „setzt dieser furchtbaren Qual ein Ziel! Leonore erfahre, an welchen Orten ich schmachte, und sie wird ganz gewiß kommen und mich befreien.... Aber Ihr seid unschlüssig, Ihr fürchtet ihren Bru der!... ach, ja! fürchtet ihn. denn seine Rache ist schrecklich, unversöhnlich!... Wohlan, so saget Con?a, dem Prinzen von Mantua, oder dem Freunde meiner Kindheit, dem treuen Cardinal Cinthio, daß hier un ter einem falschen Namen..." Plötzlich ertönte die fürchterliche Stimme des Kerkermeisters, und das Echo wiederholte seine plumpen, aber beschleunigten Schritte. Der Unglückliche fuhr zusammen, schwieg und flüchtete mit Entsetzen in seinen Kerker zurück, den der gefühl lose Kerkermeister hinter ihm verschloß, ohne nur einen Augenblick die Canzonetta, die er leise trällerte, zu unterbrechen. „Die fixe Idee dieses Wahnsinnigen," sagte der junge Italiener zu den gerührten Fremden, „besteht darin, daß er von einer vornehmen Dame geliebt zu werden wähnt; bald benetzt er die Briefe, die er von ihr empfangen zu haben sich cinbildet, mit Thranen; bald hört man, wie er sich mit Verzweiflung Feste, Turniere und Triumphzüge in's Gedächtniß zurückruft; bisweilen singt er Verse und zeichnet sie an die Wand seines Gefängnisses, wenn man ihm aus Mitleid ein Bischen Lickt bewilligt: denn sein Wahnsinn ist nicht bösartig, sondern bloß eine tiefe Melancholie, eine fort währende düstere Sch""mury. Seine Verse sind stets d-», .mgcvlldcten Gegenstände seiner Zärtlichkeit geweiht, und dieser Brief, den er Ihnen gegeben, ist gewiß voller verliebter Redensarten..." „Das ist wahr," sagte Montaigne, der ihn eben gelesen hatte: „er schreibt an die Prinzessin von Fer rara, als ob die erlauchte Leonore ihn mit der zärt lichsten Gegenliebe beglückte; er spricht von nächtlichen Zusammenkünften, die sie ihm bewilligte, und zweifelt nicht, daß sie selbst kommen und ihn befreien werde, sobald sie erfahren, daß er hier sei.... Arme mensch liche Natur!" setzte er mit einem Seufzer hinzu, „Alles, was ich hier so eben gesehen habe, liefert einen sehr starken Beweis für den kühnen Ausspruch des Plinius: tlomino nil miserius aut 5uperbius."*) *) Kein Geschöpf ist erbärmlicher, aber auch kcins hoch- - müthigcr, als der Mensch.