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560 wohl! sagt er, das ist doch nach seiner ganzen Er scheinung zu urtheilen eine offenbare Lüge." „Und was macht Ihre liebe Frau?" fuhr jener fort. „Gleichfalls recht wohl," antwortete abermals der Kleine. „Gleichfalls," schob Richard wieder leise da zwischen. „Ich glaube nun und nimmer daran; doch vielleicht sehen wir die gute Ehehälfte selbst, denn die umgelegtcn Stühle, scheinen darauf hinzudeuten, daß noch Familie Nachkommen wird." Die beiden Bekannten trennten sich jetzt, und das Männchen, das durch die Begrüßung in einige Ver wirrung gcrathen war, nahm wieder Platz. Die Blässe seines Antlitzes kehrte nach einer flüchtigen Morgen- röthe, besser gesagt Abendröthe der Wangen auf die selben zurück. Er nahm jetzt eine Tabakspfeife aus der Rocktasche und legte sie vor sich hin. Dann sah er sich sehnsüchtig, aber behutsam rings um und schien irgend Jemanden zu suchen. Glücklicherweise zeigte sich jetzt ein Kellner in der Nähe — nach einem solchen hatte er verlangt, aber nicht gewagt, sich durch Klopfen oder irgend ein Geräusch bemerkbar zu machen. Alles, was auffallen konnte, vermied er vorsichtig. „Pst, hören Sie!" rief er jetzt leise. „Befehlen?" entgegnete der Kellner herbeitretend. „Sein Sie doch so gut," versetzte jener in ver traulich bittendem Ton, „und bringen Sie mir eine kleine Flasche Bier." Verstohlen zog er, als der Kellner sich entfernte, seinen Beutel, um die Zahlung in Bereitschaft zu haben. „Nun, sag'jmir," begann ich jetzt wieder zu Richard, „wer ist der närrische Kauz mit dem eingefallenen Ge sicht, das so sorgenvoll und doch so drollig aussieht?" „Du weißt, daß ich Dir manchmal die armen Ge schöpfe im schwarzen Fracke und der weißen Halsbinde, mit der gebückten Haltung und der dcmüthig-respekt vollen Miene geschildert habe. Erst neulich, als wir zusammen Carricaturen zeichneten, entwarf ich Dir eine Figur, die Dir so komisch vorkam." „Ja, ganz.recht, sie stellte einen Unterbeamten vor. Dieser dort —" . „Du sollst mich künftighin nicht anders als einen Registrator nennen, wenn dieser dort nicht eben ein solcher ist." ^ „Haha, ein Aegistrator, Deine Lieblingsgestalt?" „Ist das nicht die gedrückte, kümmerliche Unter würfigkeit in Person? Mir treten die Thränen in die Augen, wenn ich sie ansche, während mir cs in den Fingerspitzen zuckt, sie gleich hier in meinem Notizen buche zu porträtiren. Doch ich brächte den armen Schelm in die größte Verlegenheit, wenn er es be merkte, und würde ihn sein ganzes Vergnügen ver derben. Die Expeditionen sind heute wegen der Feier des Constitutionsfcstes geschlossen; da hat er denn seine Sonntagskleider angezogen und sich nach langem Ueber- legen auf einen öffentlichen Ort begeben, um seine Freude an den Grundgesetzen des Staates, dessen Diener er sich für dreihundert Thaler Gehalt zu nennen die Ehre hat, zu bethätigen. Sich nur, mit welcher köstlichen Miene er jetzt einen Zug aus seinem Glase thut! Behagen und Gewissensangst scheinen sich dabei in seiner Seele zu streiten. Eine gewisse Rührung überkommt ihn, indem er das gute Bier schlürft; es schmeckt ihm so vortrefflich, und doch fürchtet er sich vor dem Wohlgeschmack, dessen er sich in seinen arm seligen Verhältnissen nicht würdig fühlt. Es kommt ihm so sonderbar vor, daß er heute hier sitzt und schwelgt, eine grenzenlose Unruhe befällt ihn, wenn er an seine Akten denkt, unter deren Last er schon so lange keucht und die ihm doch so lieb geworden. Der bleierne Fleiß ist an ihm zur fixen Idee geworden, der Wunsch, ein freieres behaglicheres Leben zu führen, ist längst in ihm gestorben; sein Schicksal, wie gesagt, ist ihm zur Gewohnheit geworden, wie sein Schlaf rock, den er in den Abendstunden anlegt, und das einfache Braunbier, das er zu Hause dreimal in der Woche zu trinken pflegt." Ich mußte bei allem Mitleid, das ich empfand, lachen. „Seltsam! das bedauernswerlhe Elend, mit so ergötzlichem Schimmer umgeben!" sagt' ich und schleuderte meine halbausgerauchte Cigarre von mir. Der Registrator schielte mit schlecht verhehlter Ver wunderung ob meiner Verschwendung herüber und haftete dann mit langen Blicken an den weggcworfenen Cigarrenstumpf. Der Freund fuhr fort: „Ich lese in seinem Her zen, er ist auf uns aufmerksam geworden. Wir sind ihm jetzt interessante Personen. Diese halbe Cigarre giebt ihm Anlaß zu mancherlei Betrachtungen, gewiß hält er uns nun für Fremde, die hier in einem ersten H»lel wohnen und an der lsble ä'Iwto speisen. Sei nur ganz gleichgiltig, Freund, als ob wir seine Nach barschaft noch gar nicht wahrgenommcn hätten; er wird sich schon noch in seiner ganzen Glorie entfalten." „Ueber die Pfeife, die er angezündet," bemerkte