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448 „Was erbittert Sie aber auf einmal so heftig gegen die gestern noch von Ihnen angebetetc Frau?" fragte der Unbekannte mit einem hörbaren Lächeln. „Sind Sie vielleicht in Ihren Voraussetzungen von Freiheit und Gleichheit zu weit gegangen und hat die aristo kratisch-tugendhafte Dame Sie etwas zu derb auf die Finger geklopft?" Der Hauptmann lachte unmäßig. „Ei ei, Freund," rief er endlich so laut, als ob seine Worte recht ab sichtlich Nataliens Ohr hätten erreichen sollen, „sind Sie noch so entsetzlich Neuling in der Kunst der Cour- toisie und in der Berechnung, wie weit man ohne Gefahr zu laufen bei jeder koketten Frau gehen kann? — Diesen Adspirantinnen im Felde der Gefallsucht schlägt ihre Stunde früher oder später — aber einmal schlägt sie ihnen, wo das Privilegium der Schwachheit ihres Geschlechts sie über die verlorene Tugend tröstet. Was die Balsau aber anbelangt, habe ich Ihnen ja meine Gründe auseinander gesetzt, warum ich ihr bisher den Hof gemacht. Jndeß sie altert seit einiger Zeit gewaltig und um Eifersucht zu erregen und den Argwohn von dem rechten Gegenstand abzulenken, dünkt mir Fräulein Henriette von nun an ein weit passenderer Gegenstand." Natalie hörte nichts mehr. Wie außer sich stürzte sie nach der Garderobe, ließ Mantel und Schleier sich geben und eilte, ohne die Ankunft ihres Wagens zu erwarten, in der leichten'Fußbekleidung ihrer Wohnung zu. Mit zehnschneidigen Dolchen, mit so viel Spitzen, als Worte gesprochen wurden, hatte das srivovc Ge spräch der beiden Männer ihr Ohr verwundet und be sonders durch die entsetzliche Hindcutung auf die Hoff nungen, wozu die eitle, nach Triumphen und Anbetung verlangende Frau den Mann berechtigt — ihr Herz und ihr Sittlichkcitsgefühl verletzt. Sie fluchte jetzt ihrem Leichtsinn und wie in Mysterien, deren Schrecken sie nie gcahnet, eingcweiht — bebte sie vor dem Gedanken an ein Zusammentreffen mit Kar sing wie vor etwas Entsetzlichem. So auf dem in der Finster niß ungewohnten Fußweg durch jedes kleine Ereigniß, durch jede ihr in den Weg tretende Gestalt geschreckt und zum Tode geängstigt, abgespannt und doch fieberisch erregt kam sie in ihrer Wohnung an und eilte zuerst nach ihrem Zimmer. Es wäre ihr unmöglich gewesen, ' in diesem Gcmüthszustand ihrem Gatten an der Seite seines von ihr vernachlässigten Kindes, ja selbst nur ihrer Nichte unter die Augen zu treten. Erschöpft, eine Beute der Reue und des Schmerzes über die von ihr gcmißbrauchte und für sie so gut als verlorene Ver gangenheit — warf die Unglückliche, ohne sich umzu- klcidcn, sich auf einen Sessel, ihr Kopf schwindelte, ihre Wange glühte und wie ein Hammerwerk arbeiteten ihre Pulse. Niemand erschien, ihr beim Ausklciden behülflich zu sein — sie hatte den ihr öffnenden Diener nach dem Befinden der kleinen Eugenie zu fragen nicht gewagt und mochte nun auch nicht nach Li fetten, die ohne Zweifel im Krankenzimmer beschäftigt war — klingeln. Auf diese Weise in einem wahrhaft beklagcns- wcrthcn Zustand war der so hart gcdemüthigtcn Frau beinahe eine halbe Stunde vergangen. Endlich öffnete sich die Thür, welche durch ihr Schlafzimmer in das ihrer Tochter führte, und — Anna trat durch dieselbe ein. Das junge Mädchen hatte Thränen in den Augen, sie schien zu sehr mit dem, was sie sagen wollte, be schäftigt, als daß sic für den befremdenden Zustanr, worin die Räthin sich befand, hätte Augen haben können. „Gnädigste Tante," sprach sie kalt und förm lich, obgleich bei dem, was nun folgte, die Thränen ihre Stimme beinahe erstickten, „unsere Eugenie ist dem Tode näher, als dem Leben, wollen Sie das Kind noch einmal sehen — so —" Wie von galvanischer Kraft aus ihrer Apathie em porgerissen sprang bei diesen Worten die unglückliche Mutter empor und eilte wie sinnlos nach dem Zimmer ihrer Tochter, an deren Bett sie kraftlos, aber ihres Schmerzes sich bewußt — in die Knicc sank. „Nimm, ewiger gerechter Gott! nimm mein Leben!" schrie sie wie vernichtet, „ich habe durch meinen Leichtsinn des Kindes Tod verschuldet, denn ich verdiene nicht, Mut ter zu sein, da ich die heiligen Pflichten der Mutter mit Füßen getreten. Aber laß dem Vater sein Kind und befreie ihn von einem Weibe, das er verachten muß." Balsau war von diesem Ausruf uüd überhaupt dem ganzen Anblick der Gattin, die er vielleicht mehr geliebt hatte, als ihr selbst gut gewesen war, und für welche die Stimme in seinem Herzen noch keineswegs schwieg, auf das Höchste überrascht. Die ihre Schuld Erkennende und Bereuende regte ein mächtiges Gefühl von Rührung und Theilnahme in seinem Herzen an. Ueberdicß war sie die Mutter des Kindes, das er viel leicht bald verlieren sollte, und als solche das einzige Wesen, in dessen Herzen sein Schmerz ein treues- Echo finden konnte. Er hob sie in seine Arme empor und drückte den Kuß der Versöhnung auf ihre Stirn.