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445 Stellen des Schädels hin, studirte einen Augenblick die Gcsicktsmuskeln, und dann, als ob er sich plötzlich entschlossen habe, gewisse Beobachtungen zu bestätigen oder Zweifel aufzuklärcn, befahl er, den Tobten in das Amphitheater zu bringen. Der Tobte mußte in der Thal für die Studien eines Schülers von Gall oder Lavatcr ein würdiger Gegenstand sein. Der Räuberei mit bewaffneter Hand siberführt und zur lebenslänglichen Haft verdammt, hatte Peter Cranou zwanzig Jahre in dem Bagno gelebt und sich blos mit dem Gedanken beschäftigt, wie er entfliehen könne. Seine Entweichungsversuche, die sich bis gegen sechzig beliefen, waren bisweilen glücklich gewesen, hatten ihn jedoch gewöhnlich nur kurze Zeit vor den Nachsuchungcn sicher gestellt und sechzigmal war er dem Stocke des Profoß verfallen. Diese grau samen Züchtigungen hatten ihn schwach und ungesund gemacht, ohne daß er nur einen Augenblick seine Pläne aufgegeben hätte; ja man hätte behaupten können, seine Sehnsucht nach Freiheit sei mit der Unmöglichkeit, sie zu befriedigen, immer lebhafter geworden; die Idee, zu entweichen, wurde bei Cranou eine Art unheil barer Monomanie. Man mußte seine Zuflucht zu den äußersten Mitteln nehmen: der Züchtling wurde an saue Bank angeschlossen, mit dreißig Pfund Eisen be lastet, und durfte nicht mehr ausgehen. Diese letzte Maßregel raubte ihm endlich jede Hoffnung, er schien auf eine Entweichung zu verzichten, wurde aber be deutend krank. Ungefähr seit acht Tagen befand er sich im Krankcnsaale, und hier eben beginnt unsere Erzählung. Der Wächter trat, mit der Tragbahre ein, und der Todte wurde nach dem Sectionszimmer geschafft. Das Amphitheater des Bagno wurde nur selten gebraucht und war dcßhalb noch scheußlicher, als es dergleichen Orte gewöhnlich sind. Hier und da lagen einige von den Ratten halbzernagte Glieder zerstreut Dentin; Stücken verfaulten Fleisches hingen auf der Narmorplattc des Tisches, und der Fuß glitt auf den Zleinplatten, die mit grünlichtem Blut überschwemmt 'aren, fast aus. Im Hintergründe hing ein unvoll- ändigcs Skelett an einem offnen Fenster und bewegte sich im Abendwinde hin und her, so daß man ein ganz auffallendes Geräusch hörte. So sehr auch Lau nay an den Anblick derartiger Gegenstände gewöhnt war, so verursachten doch thcils die ungewohnte Stunde, zu welcher er sich hier befand, lheils die naßkalte Tem peratur des Amphitheaters, lheils endlich jenes mystische Helldunkel, worin die Nacht Alles hüllt, ihm eine Art von Unbehaglichkeit. Er machte in aller Eile seine Instrumente fertig, trat an den Tisch und deckle den Leichnam des Sträflings auf. Er war ganz nackt: der Körper, abgemagert und in sich zusammengekrümmt, würde skr den eines Greises haben gelten können, wenn nicht hier und da einige angespannte Muskeln, einige besser erhaltene Fleischparlien die Ueberrcstc einer lebenskräftigen Männlichkeit hätten ahnen lassen; aber diese Spuren von Jugend zeigten sich nur höchst spar sam. Die Glieder waren mit Wunden, die der Stock des Aufsehers zurückgelassen hatte, gleichsam übcrsaet und überhaupt so durch Einschnitte, Erhöhungen und Verbiegungen entstellt, daß sie aussahen, als wären sie aus tausend Stücken grob zusammengelöthct. Die eiserne Schelle hing noch am linken Beine, und hatte einen tiefen Eindruck in'L Fleisch gemacht. Zuerst be trachtete Launay einen Augenblick die Uebcrreste eines Menschen, der während seines Lebens so viel ausge standen hatte, um die Kette zu zerbrechen, deren Ende noch an seinem Leichnam hing; dann setzte er seine Lampe neben ihn hin und nahm das Scctionsmesser in die Hand. Aber als er den Arm des Todten faßte, glaubte er Widerstand zu bemerken. Uebcrrascht, ja beinahe erschrocken bog er sich über den Leichnam und richtete den Kopf desselben bis zur Lampe empor; die Augenlider zuckten ein wenig; er hob ihn noch etwas mehr — die Augen öffneten sich ganz! Von Schreck ergriffen fuhr Olivier zurück. Jetzt streckte sich der Cadaver langsam aus, setzte sich aufrecht und blickte unruhig um sich. Der junge Chirurg wurde starrend stumm und wußte nicht, was er denken sollte; auf ein mal glitt Peter Cranou hurtig auf den Fußboden hernieder und nahm seinen Weg nach dem Fenster zu. Diese Bewegung war ein Lichtstrahl für Launay. Mehrmals schon hatten Sträflinge sich todt gestellt und auf diese Weise ihre Flucht zu bewerkstelligen gesucht; er sah ein, daß er getäuscht worden war, und nach dem er von seinem ersten Schrecken sich erholt hatte, stürzte er auf Cranou zu und umschlang ihn, gerade als er über das Fenster hinausspringen wollte. Der Sträfling suchte sich loszumachen, allein Launay ließ seine Beute nicht fahren, und nun begann ein hitziger Kampf zwischen Beiden. Peter, nackt und schwach, wie er war, konnte nicht lange Widerstand leisten und mußte endlich unterliegen. „Du siehst, daß Du nicht der Stärkste bist," sagte der Chirurg und stemmte dabei das Knie, womit er