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AS * 286 Was den Christianismus von allen anderen Reli gionen des Menschen unterscheidet, ist, daß er sein Hei ligthum nicht in der Einbildungskraft, sondern im Her zen hat; ist, daß er statt für die Reichen und Privi- legirtcn zu kommen, zu den Armen und Unglücklichen sich herabgescnkt, ist, statt der Zukunft ein neues Joch aufzubürden, er vielmehr das eiserne Joch zerbrochen, welches den Nacken vergangener Geschlechter bedrückt. Dle Verblendung selbst seiner Wundcrthätcr und Cönobitcn hat eine bezaubernde Milde, einen erquicken- denden Glanz. Ihm war die geistliche Grübelei Vor behalten, jene wunderbare Muse des Glaubens, welche die Seele zu erhabenen Religionen emporzieht, wie seine Bestimmung. Ihm war jene Uebcrspannung, jene Wollust der Heiligen Vorbehalten, in welche sich der Gedanke, aller Bande des Körpers frei, versenkt, um ausschließlich Gott zu lieben. Auf seine Stimme nahmen zwei namenlose Tugen den, die alle übrigen zu ersetzen im Stande sind, Duldsamkeit und Menschenliebe, Platz in dem Chor der heidniss^dn Tugenden. Die wahre Freiheit verkündete zuerst ihre erhabenen Triumphe, die Völker erhoben sich und warfen, eines nach dem andern, ihre Fesseln zu Boden. Liebe ist so innig verschmolzen mit dem Christen- thumc, daß eine tieffühlcnde, leidenschaftliche Seele leicht dieses mit jener verwechselt, wie es das Mittel- alter in seinen Sinnbildern beurkundet. Jener Riese Christoph, den die wilde Unwissenheit unserer Bilder stürmer empört, ist der Herkules der neuern Civilisa- tion, der christliche Prometheus, mit unserm Amor in seinen Armen. Und wer begreift je, in dem ganzen Vollmaße sei ner Grazie, der christlichen Liebe köstliches Geheim- niß? . . . Liebe ist ein großes Ding, des Lebens einziges Gut, das Alles leicht macht, was schwer und erdrückend ist, das allein alle Leiden mit Standhaftigkeit ertragt. Denn Liebe trägt die Last, ohne ihre Schwere zu fühlen. Sie verwandelt alle Bitterkeit in Süßigkeit. Sie ist cdelmüthig, unternehmend, zu großen Din gen geneigt, unersättlich in Vervollkommnung. Liebe will immer sich erheben, und Alles hieniedcn ist ihr nicht genügend. Liebe will unabhängig sein, frei von aller Neigung, die sie abwenden könnte von dem, woran sie ausschließ lich hängt, damit keine Täuschung sie verführe, kein Schmerz sie zurückstoße. Es giebt nichts Süßeres als Liebe, nichts Stärkeres, nichts Höheres, nichts Ausgedehnteres, nichts Voll- kommneres, nichts Besseres im Himmel und auf Er den. Denn Liebe ist geboren aus Gott, und kann nur ruhen in Gott, weit über alle geschaffenen Gegen stände erhaben. Wer liebt, eilt, fliegt und erfreut sich. Er ist frei, und nichts vermag ihn zurückzuhalten. Er giebt Alles für Alles. Er besitzt Alles in dem, was er liebt, weil das, was er liebt, Alles ist und Alles umschließt. Er besorgt nicht, sich ihm ganz hin- zugebcn, weil Alles ibm schon gegeben ist. Liebe kennt keine Schranken; sie übersteigt sie, läßt sie weit hinter sich. Kein Hinderniß vermag sie zurückzuhalten, keine Mühe vermag sie zu erschrecken. Sie unternimmt mehr, als sie zu vollbringen vermag, denn sie kennt nichts Unmögliches. Sie glaubt, daß alles Streben ihr erlaubt, daß aller Erfolg ihr gewiß ist. Liebe ist aller Dinge fähig. Sie unternimmt, ver folgt, vossbringt das, was ein Herz, das nicht liebt, mit Enlmuthigung erfüllen würde. Liebe wacht immer und überall; sic schläft selbst in ihrem Schlummer nicht. Sie quält sich ohne zu ermüden, verstellt sich ohne Heuchelei, beunruhigt, erschreckt sich, ohne ihre Besinn ung zu verlieren; aber wie eine lebendige, glühende, leichte Flamme brennt sie, erhebt sie sich mit Ruhe und Sicherheit. Nur diejenigen, welche lieben, vermögen diese Sprache zu verstehen. Eine solche Sprache, die dem Christcnthumc eigen- thümlich ist, würde man umsonst in den Meisterwerken Roms und Griechenlands suchen. Indessen war der christlichen Liebe Form nicht im mer unwandelbar, wie ihr Prinzip. Ihrer Natur nach folgte sic den verschiedenen Modifikationen der christlichen Gesellschaft, jedoch ohne sich dergestalt zu schwächen, daß sie den imposanten Charakter verloren hätte, der ihren Ursprung beurkundet. W.r mögen sie nicht in diesen vorübergehenden Phasen verfolgen, deren Einfluß nur aus den Anblick, auf die Oberfläche der Empsindun- ^ gen sich fühlbar gemacht. — Begnügen wir uns mit diesem „Ucberblick" der Geschichte der Liebe. Druck von C. P. Melzer in Leipzig.