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285 welches der Instinkt seiner Organisation, die Ueber- ches ist der griechische Amor; so auch verstanden die kragung seiner Väter, die Offenbarungen seines Gottes Hellenen die Liebe. in sein Herz geschrieben. Aus jener Unschuldswelt, die nicht mehr war, entsprossen Tugenden, die sich ge genseitig benannten, erstaunt, sich zu kennen. Denn einer Tugend wirkliches Dasein begründet sich nur auf das Dasein eines ihm entgegengesetzten Lasters. Liebe, wie die ersten Menschen sie begriffen, eristirte nicht mehr. Sie entfloh aus dem Zelte mit der Un wissenheit, und die Keuschheit, die bis dahin nichts gewesen, als eine diskrete Scham der Seele, vernahm erröthend ihres Schleiers und ihres Gürtels Geheimniß. Die keuscheste der Sympathien, die Bruder und Schwe ster vom väterlichen Heerde in das Brautgemach versetzt, wurde verabscheuet unter dem Namen „unkeusch" oder iueest (blutschänderisch); denn dieses letzten Wortes Bedeutung ist keine andere, als die erste. Diese Re volution verschlang des goldenen Zeitalters letzte (Über reste. Es war nun auf immer um des Menschenge schlechts Arglosigkeit und Unschuld geschehen. Man muß die Liebe nicht im Heldenalter suchen. Unter dem Joche wilder gebieterischer Religionen, von allmächtiger Theokratie oder von Tyrannei beherrscht, welche die Illusionen von Freiheit und Ruhm selbst zu ihrem Vortheil zu wenden wußte, war Liebe nur ein fanatisches oder brutales Dahingcben, gereizt durch Haß oder Eitelkeit, aber ohne wahres, inniges Gefühl. Liebe eristirte weniger noch bei jenen großen histo rischen Völkern, mit denen es so schwer zu leben war. Hat man jene abgeschmackten Romane, jene matten Jntriguen gelesen, mühsam ausgcmalt durch einen schwülstigen Styl, durch die erzwungene Kunst eines erlöschenden Genies? — Das ist der griechische Roman in der ganzen Energie seiner Erfindungen, das ist die griechische Liebe in der ganzen Energie ihrer Zärtlich keit und ihrer Opfer. Mehr darf man davon nicht verlangen. Hat man den griechischen Amor gesehen, jenen Jdcaltypus der schönsten Schöpfungen des Alterthums? Es versinnlicht vollkommen die griechische Liebe: schnur gerade, harmonische Linien, deren englische Gleichförmig keit noch keinerlei Anregung gestört; eine ernste, milde Rundung, kälter als der Marmor, wo der Meiste! ihn gesucht; ein Auge, in dem nie der Strahl eines Wun sches, der Ungeduld, des Unmuths geglänzt; ein Mund, der nie vor Eifersucht, Verzweiflung oder Verachtung gebebt; eine Stirn, welcher der tiefsurchende Finger der Sorge nicht eine einzige Runzel cingegraben: sol- Die Venus des griechischen Bildners ist ein wah res Formen-Wunder. Man kann sie anstaunen, ohne Besorgm'ß, sic anzubeten. Das Feuer, welches einst die Venus Pygmalions belebte, hat nie diese sühllose Statue belebt. Man begreift nicht, was sie mit einer Seele machen könnte. Sie ist ein Meisterstück der Kunst, eine Gottheit von Menschenhand, ein schön aus- gehaucncr Stein; aber Venus ist sie nicht. Die Literatur der Alten ist so arm an Liebe, daß man nicht erstaunen muß, wenn das Studium ihrer Sprachen seit Langem verschwunden ist aus dem Unter richte des schönen Geschlechts. Virgil allein hat noch einige jener Akkorde, die im Herzen Nachbeben, und geschickte Sophisten könnten diese Andeutung benutzen, um mit dem Pater Hardouin die schönsten Seiten der Aencide nicht seiner Feder entflossen zu glauben. Wahrscheinlich gab cs, zu den Zeiten Virgils, schon eine gewisse Vorausverkündung einer nahen allgemeinen Umgestaltung des gesellschaftlichen Zustandes, die der Philosoph an den Ufern des Sce's von Mantua schneller ahnen mochte, als der große Haufe zu Rom. Bevor die Sonncnschcibe hervortritt, hat schon lange der Ho rizont sich erhellt: ihre Strahlen berühren immer die höchsten Gipfel zuerst. Es ist dasselbe mit dem Em porsteigen neuer Civilisalioncn. Glücklich diejenigen derselben, welche nicht in Finsterniß geboren worden, denn der Tag, den sie zu leben haben, wird trübe und verhängnißvoll sein. DaS Christenthum sollte entstehen, und dieß Chri stenthum hat so zu sagen alle unsere Gefühle erfunden. Die Hirten von Bethlehem erscheinen als Boten eines neuen Frühlings, einer neuen Aera der Liebe. Die christliche Liebe, entkeimt vielleicht unter dem Schatten der schweigenden Betrachtungen des Pytha goras, entwickelt in den erhabenen Träumereien Plato's, genährt durch der Essenier phantastischen Glauben, eralkirt durch die romantische Empfindsamkeit der The rapeuten, brauchte Jahrhunderte, um den Prüfungen des Märtyrerthums, dem Eril der Katakomben zu ent rinnen. Sie erhob sich keusch und mild, aber traurig, blaß und leidend. Nach ihr kennt man keine andere Liebe mehr. Die Einbildungskraft vermag nichts zu ersinnen, das sie zu ersetzen fähig wäre, und nicht mit Unrecht entstand diese Liebe, deren letzte Flammen nur mit dem gänzlichen Verschwinden der Nationen erlö schen sollten, in einem Grabe.