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284 1^7^ keine Spur. Es gab also auch beinahe keine Liebe in ihm, wie wir nämlich dieselbe begreifen. Nach dieser ersten Liebe kam eine andere, die jener durch ihren moralischen Charakter ähnlich sein mußte. Die Ehe zwischen Brüdern und Schwestern, die so lange nothwendig war, heiligte der Liebe Prinzip in ihrer ursprünglichen, keuschen Reinheit. Aber cs schloß auch nicht ihre Versprechungen und Hoffnungen, ihr bitteres Mißtrauen und ihre glühende Schlummerlosig- keit, ihre Zwiste, ihre Stürme, ihre Versöhnungen aus. Ein Dichter, wäre er nur Dichter gewesen, hätte ^ vielleicht die Waffe des ersten Mörders in eines betro genen Liebenden Hand gelegt. Die Geschichte, oder die Fiktion der Schrift gewährt einen noch höher» Un terricht. Es ergiebt sich daraus, daß Gott noch die erste Liebe war, und daß beleidigter Stolz, in ihren Vorausberechnungen entlarvte Heuchelei, Leidenschaft ohne Zärtlichkeit wie ohne Größe, immer das wahre i Vehikel aller Zerrüttung, alles Unglücks der Mensch heit sein werde. Dieß System der Verbindung zwischen den Mit gliedern einer und derselben Familie, welches die Bande der Natur verschlingt, indem es sie vermehrt, und das im Hauswesen keine andere Veränderung veranlaßte, als das Erscheinen eines Neugeborncn, mußte lange die unschuldsvolle Glückseligkeit des patriarchalischen Zeit alters erhalten. Diese Liebe, die unter demselben Dache entstand, bei den Spielen zweier Kinder und die bis zu demsel ben Grabe reichte, in welchem zwei lebensmüde Greise entschlummerten, konnte, unter einer andern Gestalt, sich nur in unvollkommenen Bildern erneuern. Das Genie selbst, seiner eigenen Macht, seinem schöpferischen Instinkt überlassen, hat nichts Zarres, nichts Entzücken des erdacht, was nicht Nachhall dieser ursprünglichen Ergießung der ersten Gefühle wäre. Wir sprechen hier nicht von Longus, dessen naive Fabel in der That naiv sein muß, um nicht obscön zu werden. Longus war nur ein Grieche, und zwar ein Grieche des oströmischen Reichs. Aber man werfe den Blick auf wirkliche Liebesdichter, auf Gcßner, Klopstock, auf Bernardin de Saint-Pierre, der unsere Seelen bestrickt mit der milden, beinahe ge schwisterlichen Zärtlichkeit zwischen Paul und Virginia, von der Matte, auf welcher sie ihre kindlichen Lieb kosungen ausgetauscht, bis zu dem bräutlichen Orte, wo ihre Seelen auf ewig verschmolzen. Ach, welche Neigung vermag jene Sympathie der Schwester je zu ersetzen, die sich auf der Schwelle des älterlichcn Hauses gebildet, unter rührenden Sorgen und köstlichen Hoffnungen, in beständigem Wechsel von Besorgniß und Wonne? Und welchen Namen verdiente das Weib unserer Wahl, das, sind des Vergnügens leichte Illusionen verschwunden, nicht wie eine Schwester sich an des kranken Gatten Bett setzt, nicht den letzten Schwestcrkuß aus des Sterbenden bleiche Wange drückt? — Als Esther, zagend für das Schicksal ihres Volkes, vor des Ahasveros glänzendem Throne ohnmächtig niedersank, erhob der König sie nicht mit seinem goldncn Sceptcr, sondern durch die Namen Geliebte und Gattin. „Ich bin Dein Bruder," sagte er, „Du bist meine Schwester. Komm zu mir, Esther, und fürchte Dich nicht." Wie glücklich, wie lauter war des Aeltervaters Greisenalter, wenn er in einem Verhältnisse, daß die Berechnung der Wissenschaft kaum zu ermessen vermag, die von ihm abstammenden Geschlechter sich vermehren, sich ausbrciten sah. Die Familien - Verbindungen, Werk der Nothwendigkeit bei jungen Völkern, wurden lange Zeit durch angeblich von Gott selbst ausgehende Gesetze geboten. Die alleinige menschliche Polizei, welche man von dem Höchsten ableiten kann, machte gerade das den Menschen zur heiligsten Pflicht, was zeither, durch eine sonderbare Jdccumgcstaltung, ein Verbrechen in den Augen der Moral geworden ist. Fragt man nun, welches jene so lange den Urge sellschaften unbekannte Macht ist, welche die Moabilerin von Boas patriarchalischem Lager gerissen, und die durch eine unbegreifliche Auctorität ihre launischen In stitutionen an die Stelle derjenigen der Religion, der Liebe, der Freiheit versetzt; so kann man antworten, daß sie sich nennt, wie beinahe alle Ideen, deren Sinn man in den Elementen ihres Namens sucht. Moral ist Ausdruck der Gebräuche, der Vorm- theile eines Landes; denn die Sitten waren nie etwas anderes, in dem genauen Begriffe dieses Wortes, und unsere Sprachen haben die Spur jener profanen Usur pation der gesellschaftlichen Uebcreinkünfte über die na türlichen Gefühle bewahrt, indem wir sagen: „gute und schlechte Sitten," was klar genug ein Geständniß aus spricht, welches keines fernem Kommentars bedarf. Wahrheit ist, daß cs nichts Bestimmtes, nichts Abso lutes, nichts unumgänglich Wahres in der Moral, wie in den Sitten gicbt. Die Etymologie hat nie ein tieferes, ein bedrückcndcres Gcheimniß enschleiert. Von nun an ersetzten Laune, Mode, Gebrauch bei dem entarteten Menschen das reine, erhabene Gesetz,