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283 nung sie sortzusetzen für gut erachtet. Darum gab Gott dem Weltall Liebe. Darum legte er in der Pflanzen Schovß ein organisches Phänomen, darum ver lieh er dem Thiere seinen Instinkt, dem Menschen sein inniges, tiefes, heiliges Empfinden. Er gebot seinem Werke zu gedeihen, sich fortzupflanzen. So ist die Welt, die Gesellschaft entstanden, in der wir leben. Daß die Liebe in einem irdischen Paradiese, von des Höchsten eigenen Händen gepflanzt, um der Mensch heit als Brautgemach zu dienen, emporgeblüht ist, das ist die Hauptsache nicht. Die ganze Natur, in ihrer Unschuld und Schönheit, ihren frischen, jungfräulichen Reizen, war für den Menschen ein Paradies. Was mußte sic nicht der Liebe sein? Es kam eine Zeit, wo diese Blülhe welk zu Boden sank, wo das Paradies sich verschloß, wo Winter den herrlichen Frühling verdrängte, wo Jahrhunderte sich auf Jahrhunderte häuften, wo des Tempels Ruinen die Hütten zerschmetterten, wo die Trümmer der Königreiche die letzten patriarchalischen Völkerstämme begruben. Liebe allein schwebte noch über der gesellschaftlichen Welt. Liebe allein zuckte noch als ätherische Flamme aus dem erkaltenden Aschcnhaufen der soziellcn Ordnung. Liebe allein verkündete sich noch in dem leisen Nach hall früherer Melodien des Entzückens und süßer Be rauschung. Wie göttlichen Ursprungs Liebe auch war, mußte sie dennoch den verschiedenen Umgestaltungen oder mo ralischen Phasen des verwünschten Geschlechts, dem sie zur Beglückung beigcgebcn worden, sich unterziehen. Sie nahm Theil an seiner Hinfälligkeit, an seinem Elend. Sie entartete mit seiner Entartung, unö weinte bei seinem Schmerz. Da aber, nach Gott und Freiheit, Liebe der einzige aller unserer Gedanken bleibt, dem dieselbe Unsterblich keit zugesichert ist, als der Natur, ersteht sie immer, jung und schaffend, aus allen Revolutionen der Wel ten, und die Welten entstehen mit ihr. Dagegen, als Ausdruck unsers Geschlechts, ist sie beweglich, verän derlich wie dieses. Die Geschichte der Liebe ist die Geschichte des menschlichen Geschlechts. Ein schönes Buch zu schreiben . . . Wer schreibt cs? Die erste Liebe, die Liebe der beiden ersten Lieben den, die Milton so erhabene Gedanken cingeflößt, mußte von der spätem Liebe eben so verschieden sein, als die Jugend von dem Alter. Eva war Adam's Schwester, indem sie densel ben Ursprung theilte. Sie war zugleich seine Tochter, weil Gott (sagt die Genesis) sic aus Knochen, Fleisch und Blut ihres Gatten gebildet. Man begreift, wie viele sympathetische, rührende, ernste, feierliche Anklänge ein solches Gefühl umfassen mußte. Alle Neigungen, deren des Menschen Orga nisation fähig sein konnte, waren in diesem erhabenen Keime enthalten. Plato, der, ohne es zu wissen, von dem Geiste der Vorausverkündigung beseelt war, nähert sich in seinen wundervollen Träumereien diesen Mythen der Genesis; doch ist er denselben noch so fern, als eines großen Mannes»Gedanke dem Gedanken eines Gottes ist. Die Hypothese des Philosophen ist die sinnreichste aller Hypothesen; aber sie steht hinter der Offenbarung.des heiligen Schreibers weit zurück. Wir können bei dieser Liebe nicht verweilen, die für uns nur noch in einigen Zeilen Mose, wie in ei nigen Versen des verlornen Paradieses lebt. Ihr Reiz ist dergestalt durch die Zahl der Jahrhunderte geschwächt, daß sie für unsere Intelligenz beinahe unbegreiflich ist. Es gebricht ihr jetzt, für eine gefühlvolle Seele, an den beiden köstlichsten und hinreißendsten Verführungen. Sie scheint einen andern Namen zu verdienen. Wer möchte jetzt noch Liebe ohne geheimnißvolle Vertraulichkeit? Wer möchte selbst Liebe noch ohne Rivalität? — Das Glück, geliebt zu sein, besteht weniger (den Begriffen unserer civilisirten Gesellschaft zufolge) in einem sich freiwillig darbietenden Herzen) als in der zweifelhaften, unruhigen, allmähligen Ueberraschung ei nes sich vertheidigendcn Herzens. Unwillkürliches Zu sammentreffen, ein verstohlener, trauriger und sanfter Blick, das Beben einer zitternden Hand, vor der man lange scheu zurückgewichen, bevor man sie zu ergreifen gewagt: das ist der Liebe eigentlicher, wahrer Genuß. Der Eindruck des Verlangens, der Sehnsucht, der Ehrfurcht, des Enthusiasmus, den der geliebte Gegen stand erzeugt, die vergötternde Aufmerksamkeit, die uns jeder seiner Werke belauschen läßt; alle Gedanken von seinen Bewegungen wie gefangen; die ungeduldige Hast, mit der man ihm in Gedanken enlgcgeneilt; das freu dige Murmeln, das den Lippen entströmt, wenn man ihn endlich erblickt; die verworrene, eifersüchtige Angst» welche sein Begehen, seine Geberde, seine Worte er- . zeugen; der Wink, welcher tröstet und entzückt: das sind der Liebe herrlichste Triumphe. Die Lateiner bedienten sich desselben Wortes, um die Idee „lieben" und die „wählen" auszudrücken. Von dem Allen war in dem irdischen Paradiese