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262 Sieben unerbittliche Soldaten wachen in meinem klei nen Zimmer. Sie folgen mit Jnquisitorblicken allen meinen Bewegungen, allen meinen Worten. So be fremdende, so barbarische Vorsichtsmaßregeln würden mehr in den Kerkern eines türkischen Pascha's, als einer französischen Negierung, an ihrem Platze sein. Sie wollen meinen Tod verhindern; aber ich habe Hoffnung und Vertrauen, ihr Bestreben dennoch zu täuschen und alle ihre Maßregeln zu vereiteln. 1». — Von zehn Uhr Abends bis drei Uhr Mor gens schwacher Puls. Fieberhitze im ganzen Körper. Bis sechs Uhr ruhiger Schlaf. Schwäche und Ohn macht eine halbe Stunde lang. Um sechs Ubr bin ich wieder zur Besinnung gekommen. Kein Pulsschlag bis sieben Uhr. Von sieben Uhr bis Mitternacht schwacher Puls. 16. — Von der zehnten bis vierten Stunde hefti ger Durst. Ruhe im Uebrigen. Seit vier Uhr be wegter Puls nebst Fieberhitze. Um ein Uhr Morgens ruhiger Schlummer. Um zwei Uhr Schwindung des Pulses. Er erscheint um drei Uhr wieder, aber äußerst schwach. Es ist jetzt beinahe sieben Uhr, und meine Schwäche ist so groß, daß ich bald das Ende meines Lebens und meiner Leiden erreicht zu haben hoffe. Nach meinem Tode soll dicß Tagebuch meinem Neffen Giovese Girolamo Guarini zugcstcllt werden, der den Präsidenten Mezaud, Pasqualini und Suzzoni Abschriften davon, und eine vierte an Rigo zu geben hat, welchen letztem ich beschwöre, die von mir ihm mündlich mitgetheiiten Absichten zu voll- strccken. 17. — Zehn Uhr. Der ganze gestrige Tag war ruhig. Erträglicher Durst; regelmäßiger Puls; Helles Gesicht; Kopf frei; Magen und Eingeweide ruhig. Heute befinde ich mich in demselben Zustande, ausge nommen, daß der Puls äußerst schwach ist. Ich sterbe nach einem reinen, schuldlosen Leben, und sehe cs mit derselben Ruhe erlöschen, wie Sokrates, Seneca und Petronius. 18. — Eils Uhr. Ich stehe am Ziele meines Da seins mit der Heiterkeit des Gerechten. Der Hunger quält mich nicht mehr, der Durst hat gänzlich aufge hört. Magen und Eingeweide sind ruhig; der Kopf ohne Gewölk; das Gesicht hell. Mit einem Worte, eine allgemeine Ruhe herrscht nicht allein in meinem Herzen und in meinem Gewissen, sondern auch in meiner ganzen Organisation. Die wenigen Augenblicke, die ich noch zu leben habe, entschwinden allmählig, wie ein kleiner Bach durch eine schöne, köstliche Wiese. Die Lampe erlischt, weil es ihr an Oel gebricht. . . . Eigenhändig unterschrieben: Antonio Viterbi. Hier beendet sich das Tagebuch. Dessenungeachtet lebte Viterbi noch bis zum 20sten. In dem Momente des Verscheidens streckte er sich lang auf seinem Bette aus und sagte: „Ich bin bereit, diese Welt zu verlassen." Gleich darauf hauchte er seinen letzten Seufzer aus. Der Geist der Poesie. Ein Wandrer kommt aus fernen Auen; Er bringt uns Bild und Klang und Reim. Doch magst du ihm ein Schlößchen bauen: Auf Erden wird er nie daheim. Still geht er hin mit Götterschritte, Er kehrt in manches Menschenhaus. Froh weilt er in der Guten Mitte; Der böse Sinn treibt ihn hinaus. Die Kinder liebt er und die Armen, Die Blumen liebt er und das Grün. Willst du an seiner Brust erwärme», Mußt du die Straße mir ihm zich'n. Und Alles mußt um ihn du laste». Mußt halten nur, was er dir lieh, So wirst du selig ihn umfassen, Den freien Geist der PocM. Druck von C. P. Melzec in Leipzig.