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2.82 Anna Maria war vielleicht nicht das schönste Mädchen in der Pievc; aber Tonino hielt sie dafür. Was kümnierte er sich um alles klebrige? Ihre gro ßen, schwarzen Augen, ihr bräunliches Gesicht, jenes bescheidene, resignirte und beinahe leidende Aeußere, das man bei den korsikanischen Frauen bemerkt, zeigte sich nicht unangenehm unter dem weißen Schleier, mit dem sie sich Sonntags schmückte. Tonino fand dann nicht allein mehr sie hübsch. Er rief mit lauter Stimme: „Anna Maria.'" — Keine Antwort; das alte Echo des Berges Bastelica allein wiederholte: Anna Maria.' Mit finsterer Stirn und beengtem Herzen blickte der Jager verstört um sich. Er vernahm ein Geräusch in dem Mapis (Gestrüpp) und eilte näher. „Anna Maria, sei lu (bist Du es)?" rief er. Wie groß war sein Erstaunen, als er statt der Gesuchten aus dem Gehölz den langen Fedcrbusch, die Jagdflinte und endlich die dürre Gestalt seines cdeln Wetters, des Cho von Guitcra, emporwachsen sah. Sein gewöhnlich anmaßlicher und drohender Blick hatte einen Ausdruck, der ihm nicht eigenthümlich war. Man las in ihm eine gewisse mit Scham und Zorn gemischte Verlegenheit. Seine gewöhnlich bleiche Stirn war mit hoher Röthe überdeckt. „Habt Ihr gute Jagd gemacht, Cho Patrone?" fragte ihn Tonino. Diese Frage war jedoch nur zu dem Zwecke, um zu einer andern zu gelangen. Er staunt, keine Antwort zu erhalten, fuhr er fort: „Habt Ihr nicht Anna Maria gesehen?" — Keine Antwort. — „Ich frage Euch, ob Ihr Anna Maria nicht ge sehen ?" „Nein!" entgegncte der Andere kurz abbrechend, indem er den forschenden Blick des Jünglings vermied. Sodann fügte er gefaßter hinzu: „die Jagd war nicht übel, aber das Wild ist mir entschlüpft. Ich denke es noch zu finden. Glück zu, Deinerseits, Tonino!" Nach diesen Worten setzte er seinen Weg fort, blieb aber bald stehen, zog aus seiner Tasche einen vollen Beutel und ein Halsband von Korallen mit einem Kreuze. „Nimm," sagte er, „die Börse für Dich, das Hals band für Deine «Verlobte. Du kannst ihr bemerkbar machen, daß es von mir kommt." Tonino war erfreut, und wollte sich in Dank sagungen erschöpfen, als er den Blick seines Patrons erblickte, der schielend über ihn hingleitcte und ihm ein unbekanntes Unheil zu verkünden schien. Er glaubte in diesen Judasblicken ein Gemisch von bitterer Ironie und scheuer Besorgniß zu lesen. So hatte er den Cho nie gesehen. Dieser machte mit der Hand ein Zeichen der Ungeduld und Verabschiedung, machte sich sodann rasch auf den Weg und war bald im Walde ver schwunden. Dem Jäger war dieß Benehmen unbegreiflich; aber eine geheime Ahnung sagte ihm, daß er nichts Gutes zu erwarten habe. Nochmals rief er: „Anna Maria.'" und stand mitten auf dem hohen Wiesenplan. Der Hund sprang ihm entgegen. Sein Herz schlug mit Heftigkeit. „Heida, Genoese.'"*) sagte er, ihn liebkosend, „wo ist Deine Herrin?" Der Hund sprang gegen einen Fußweg, blieb auf demselben stehen, wedelte und klaffte in der Richtung gegen das Gebirge. Der Jäger begriff diese Andeutung, streichelte noch mals das treue Thier, und eilte in der bezeichneten Richtung fort. Bald hatte er das andere Ende des Waldes erreicht. Jenseits erhob der Berg seinen nack ten öden Scheitel vor ihm. Rasch erklimmte er den selben und durchforschte nun mit eilenden Blicken seine Umgebung. Endlich entdeckte er seine Verlobte am Rande eines Abgrundes, auf einem flachen Steine sitzend. Der Berg war auf dieser Seite steil abgeris sen, und zeigte nichts als eine 200 Fuß hohe Mauer von rothcm Granit, aus dessen gähnenden Spalten hier und da einige schwache Gesträuche hervorstrcbten. In der Tiefe brausete ein Strom, dessen Dasein man jedoch nur durch sein Getöse ahnete. Die ganze Gegend stand in düsterer Uebereinstim- mung mit dem Vordergründe des Gemäldes. Unwill kürlich fühlte man sich bei ihrem Anblicke von einer mit Entsetzen gemischten Traurigkeit befangen. Das war das Stelldichein, wo Anna Maria ihren Geliebten erwartete. Als sie ihn, aus ihrem Hinbrüten durch sein rasches Näherschreiten aufgeschreckt, vor sich erblickte, stieß sie einen Schrei aus. Alle ihre Glieder zitterten wie Espenlaub. Ihr Verlobter wollte sich neben ihr niederlas mit seinen Armen umschlingen. Nasch erhob s schauderte zurück, und indem sie abwehrend d ausstrcckte, rief sie mit hohler Stimme: „Berü nicht!" Nach diesen Worten setzte sie sich ar *) Genueser. Die Korsen geben ihren Namen ihrer Feinde. Hui