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,66 „Nun so lassen Sie uns zufrieden. Sind Sie denn Wichten habe ich nicht vergessen; mein Herz ist so gekommen, eine Betschwester zu finden?" Ein allgemeines freches Gelachter bewies die Billi gung, welche diese Aeußcrung fand; die Aufseherin zog heftig die Schelle, und die Ruhe war wieder hcrgcstcllt. Der Priester hatte mit gekreuzten Armen das Ende des Tumults abgewartet, wie ein Mensch, der, durch Gewitter überrascht, auf einem trocknen Zufluchtsorte auf das Vorübcrgehen des Regens hofft, um seinen Weg sortsetzen zu können. Er betrachtete alle Gesichter und unterdrückte nur mühsam den Unwillen, den er empfand. Das Verbrechen ist entsetzlich bei den Män nern, aber zurückstoßend bei den Weibern. Hier nun, wo das Verbrechen die widerlichste Gestalt angenom men hatte, empfand der bejahrte Priester, der Banditen und Mörder zur Reue ermahnte und Mitleid mit ihnen hegte, nur Abscheu. Er litt durch den Anblick so vielen Lasters, und wünschte ein Wort der Reue zu verneh men; er wendete sich an ein junges Mädchen, das kaum 16 Jahre alt sein konnte. „So jung, mein Kind, sollten Sie nicht das Ver langen fühlen, zu Ihren Pflichten zurückzukehrcn?" Sie warf lachend den Kopf in die Höhe. „Meine Pflichten?" rief sie, „was will der Mensch damit sagen! Habe ich denn Pflichten? ich bin nur meine eigne Herrin!" Er sah sie mit einem Blicke des Mitleids an, und dann um sich her; seine Augen begegneten denen Ma riens, und hier glaubte er noch Scham zu erkennen. Sie crröthete und wendete sich ab. Der Blick des Rechtschaffenen an diesem Orte drückte sie nieder. „Und Sie?" sagte der Priester, sich ihr nähernd. „Ach mein Herr, glauben Sie nicht," siel sie ein — und ohne daß sie ihre Thränen zurückzuhalten ver mochte, stürzten sie ihr über die Wangen; sie verbarg ihr Gesicht in die Hände. „Mein Kind," sagte der Greis mit väterlichem Tone, „die Reue über Ihre Vergehungen —" „Ach, mein Herr, noch ein Mal — aus Barmherzig keit, verwechseln Sie mich nicht" — Und ohne »peitcr zu reden, schweiften ihre Augen über den Kreis der Weiber hin, die sie beobachteten. „Reue — kann ich nicht hegen, — Vergehungen ließ ich mir nicht zu Schulden kommen." i „Aber Ihre Anwesenheit hier?" „Was ich gcthan habe, mein Herr, würde ich gleich noch einmal thun," erwiederte sie ruhig. „Meine rem, wie am Tage meiner Einsegnung." Dieser unschuldige Vergleich, diese Jugenderinne- rung, rührten den Priester; er entfernte sich von den klebrigen, um freier mit ihr sprechen zu können. Marie erwartete keine neue Frage, sondern fuhr fort: „Ich konnte den Freund retten, den ich wie mei nen Bruder liebte. Ich rettete ihn vom Tode. Vom Tode!" wiederholte sie, als stände das Blutgerüst vor ihr. „Jetzt ist er aber frei." Der Ausdruck einiger Freude überzog ihr Gesicht, dann aber wurde sie wieder nachdenkcnd. Ihre Hände, welche sie auf die Brust gedrückt hatte, sielen herab, bei dem Ausdrucke der Entmuthigung. „Ja, frei — ich aber für lange Zeit hier! für lange Zeit von ihm getrennt! Doch was thut das? Werden wir uns doch einst Wiedersehen, und konnte ich ihn doch der Rache seiner Feinde entziehen!" „Aber fürchten Sic nicht den Schmerz Ihrer Mutter?" „Ich habe keine Mutter mehr!" „Und wenn der Mensch ein Verbrechen begangen hätte?" „Ein Verbrechen?" rief sie voll Abscheu. „Er! Raimund? oder ist es wahr, Sie kennen ihn nicht, und mögen wohl glauben, — nein, mein Herr, Rai mund ist dessen würdig, was ich für ihn that. Gegen den Staat, gegen den König hat er sich vergangen, aber was kümmert mich das?" „Raimund Dervcaur?" sagte der Priester, indem er die Hand an die Stirn legte, als müßte er sich besinnen. „Wegen eines Staatsverbrechens vcrurtheilt? Also sind Sie es, die als barmherzige Schwester zu ihm in das Gcfängniß gekommen ist und ihn befreit hat?" „Ja, mein Herr, ich war so glücklich, ihn zu retten, und die Zukunft wird es denen zeigen, die seinen Tod unterschrieben. Er sterben! sterben auf dem Blutgerüste? Nein, er ist groß und edel, und man wird es einst noch erfahren!" In diesem Augenblicke tönte die kreischende Stimme eines öffentlichen Ausrufers hinauf an das begüterte Fenster. Alle schwiegen und der Ausrufer schrie. „Hingerichtet: Raimund Derveaux, alt 30 Jahre, entsprungen aus dem Gefängnisse am 20. April, und wieder ergriffen am darauffolgenden 5. Mai!" Marie sank zusammen und war tobt. Druck von E. P. Melzer in Leipzig.