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154 „Ich habe heute viel zu thun," erwiderte sie. „Sie sind nicht die, welche gewöhnlich kommt!" Ohne darauf zu antworten, vertheilte die barm herzige Schwester die Suppe an die, welche sich ihr Essen selbst holen durften. „Haben Sie Verurtheilte?" fragte die Schwester mit zitternder Stimme. „Einen." „Hat er einen Priester gehabt?" „Er hat keinen verlangt." „Wenn ich mit ihm redete?" „Gehen Sie zu ihm, aber ich glaube nicht, daß Ihnen die Bekehrung gelingen wird." Die Schwester nahm eine kleine Lampe, welche ihr als Führerin dienen sollte. Sie hatte den Schlüssel selbst genommen, und ihr Schritt allein tönte an der Thür. Leise trat sie ein, schlich zu dem Lager, auf welchem Raimund angekleidct ruhte, und als sie ihn wach fand, setzte sic die Lampe außerhalb der Thür nieder. „Sie müssen," sagte sie schnell zu dem Gefangnen, „dieß Kleid anziehen, welches ich Ihnen bringe; lassen Sie sich eine Mütze aufsctzen, und werfen Sie sich diese Caputze über. Der Schließer wird Sie kaum fragen, und Sie auf jeden Fall nichts antworten." Raimund erkannte die Stimme. „Sie sind es wieder, Marie?" „Ja, lassen Sic uns keine Zeit verlieren." „Der Tag bricht an, und Sie möchten erkannt werden. Sie müssen Ihre Lampe auslöschen; das Gemach des Schließers ist dunkel, er wird Sic nicht erkennen." „Sie hier lassen? Ich weiß, welcher harten Strafe Sie sich aussetzen, mich um den Preis Ihrer Freiheit zu retten! Haben Sie das bedacht? Sic sagen, daß Sie mich lieben, und können das von mir fordern?" „Die Zögerung verdirbt Alles! Wie kann die Rede von mir sein, da es auf Ihr Leben ankommt?" Sie weinte und rang die Hände. „Mein Anzug," er- wicderte sie, „wird mich gegen die ersten Verfolgungen schützen, und dann glauben Sie nicht, daß jeder Tag Verhaftung mir ein Tag der Freude sein wird, wenn ich Sie frei und glücklich weiß, wenn ich nichts mehr für Sie zu fürchten habe?" Sie warf sich nieder auf die Knie vor ihm, und ihr in Thräncn gebadetes Gesicht glühte fieberhaft. „Raimund," sagte sie, „es ist nur noch für mein eignes Glück, weshalb ich Sie bitte! Aus Mitleid für mich, retten Sie sich! Wenn Sie mich nicht ver gessen, wenn die Unglückliche, die Ihnen Alles geopfert hat, Ihrer Liebe nicht unwerth scheint, dann finden wir uns wieder. Retten Sie sich erst, und glauben Sie mir, wir sehen uns wieder." „Gut! So leben Sie wohl bis zu unserer nahen Vereinigung, leben Sie wohl für einige Tage." Er schloß sie in seine Arme, und bedeckte ihr thrä- nenbenetztes Gesicht mit Küssen. Und sie, die reine jungfräuliche Liebe geschworen hatte, empfing die Lieb kosungen Raimund's, und erwicderte sie ohne Unruhe, ohne Reue. In diesem Augenblicke lag so etwas Ernst haftes, Feierliches, daß das unschuldige Mädchen sich keinen Vorwurf machen konnte. Sic hatte beide Arme um Raimund geschlungen, und drückte ihn krampfhaft an sich. „Verlaß mich, verlaß mich nun," rief sie; „es muß sein! Der Tag bricht an, und man wird Dich erkennen." Sie zog den Kopfputz herab in die Augen des Gefangnen, sagte ihm Lebewohl und drückte ihm die Hand, und indem sie ihm einen langen Kuß gab, sah sie ihn hinaufschreiten in die Gänge. Mit angehaltnem Athem lauschte sie, keiner Thräne fähig, seinem Schritte. Wie schlug ihr das Herz, als sie den Schließer fragen hörte: „Nun Schwester, will der Sünder sein mea culpa sagen?" „Nein," erwiederte Raimund, indem er das Ge sicht hielt und weiter ging. „Der Almosenier der Anstalt wird ihn in den letz ten Augenblicken sehen," sagte der Mann, indem er seine Dose mit solcher Gleichgültigkeit in der Hand drehte, als spräche er von einem gewöhnlichen Kranken. „Der Almosenier wird ihn sehen, das ist der Gebrauch so." Da es noch früh war, und der Schließer noch nicht recht ausgeschlafcn hatte, zog er die Mütze tief über die Ohren, um sich gegen die kühle Morgenluft zu schützen. „Sie weinen, Schwester," fügte er hinzu, wie er sah, daß Raimund seiss Gesicht mit dem Tuche ver hüllte. „Man merkt wohl, daß Sie nicht daran ge wöhnt sind, zu uns zu kommen. Muß man jedesmal verzweifeln, wenn ein Mensch seine Seele nicht retten will ? Das geht Jedem selbst an. Guten Morgen, Schwester." (Beschluß folgt.) Druck von E. P. Melzer in Leipzig.