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294 Einige Stunden nachher rollte seine Postkutsche auf der Chaussee von Mailand. Lucie, die in Folge der furchtbaren Gemüthsbewegungen bleich und ab gespannt aussah, achtete nicht mehr auf die groß artigen Gemälde, welche die Alpen vor ihr aus- breitetcn; ihr Herz war auf dem Gebirge von Na- thers zurückgeblieben. Arthur hingegen beobachtete ein furchtbares, finsteres Stillschweigen. Lucie sah ihn schwermüthig und mit einem sanften Mitleid an, als er rief: „Nun, Du bist glücklich, Lucie?" „Glücklich, Dich gerettet zu sehen." „Nein, nein — ihn wieder gefunden zu haben. — Du hast mit ihm gesprochen, nicht? Beide habt ihr mich geschmäht und verwünscht? — Gut, sehr gut! Du hast meine Wunde, die schon zu heilen ansing, wieder aufgerissen — Du bist glücklich!" Lucie war starr wie eine Bildsäule. Nach einem augenblicklichen Stillschweigen fuhr Sir Arthur mit strenger und düsterer Stimme, wie mit sich selbst redend, fort: „Ich hatte eine Tochter, sie hieß Lucie; sie war edel und schön, sie war mein Stolz und meine Liebe. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie klein war, ihre Züge erinnerten mich an ihre arme Mutter; sie spielte unschuldig und rein auf dem Rasen im Park; sie wuchs heran, sie war sanft, wie ein Engel — ach, nun Hab' ich kein Kind mehr, nun Hab' ich kein Kind mehr!" „Vater, sieh mich an!" rief Lucie in Ver zweiflung. „Ich bin Deine Tochter, Dein Kind, das nur Dich liebt, das nur für Dich lebr!" „Meine Tochter —? Die hatte nicht solche Augen, ihre Stimme klang sanfter und zärtlicher, schwarze Haare wallten über ihre Schultern herab — sie war schön, diese Lucie —" „O, Erbarmen, Erbarmen, mein Vater!" schluchzte das junge Mädchen. „Der Abgrund — er öffnet sich — er schließt sich — Nacht — Schweigen — Grabesruhe —" Lucie, die sich über die Hände des Vaters ge beugt hatte, erhob sich jetzt und sah ihn mit Schrecken an. Arthur's Augen sprühten Blitze — sein Ant litz war fieberhaft entflammt. „Eine Stimme ruft im Schlunde — man naht — man will mir zu Hilfe kommen — laßt mich, laßt mich! — Die Eisschollen bersten, rollen — ver loren — todt! —" „Gerettet," rief Lucie, „gerettet vom Himmel, der Erbarmen mit meinen Thränen gehabt, der mein Flehen erhört hat, das Flehen Deiner Lucie! Ge rettet für das Glück Deines Kindes!" Sie umschlang den Hals ihres Vaters, sie strei chelte seine Wangen und seine weißen Haare, aus. ihrem gebrochenen Herzen drangen heilige Liebes- worte; aber unter ihren Thränen und ihren Küssen blieb Arthur uuempsindlich; er sah nichts, erhörte nichts — seine Vernunft war dahin. Seine er schütterte Seele blieb taub bei dem Schmerzensrus seiner Tochter; neben einem Wahnsinnigen schluchzte ein von Weh und Verzweiflung halb todtes Wesen. Einige Stunden von Brig hielt der Wagen an; der Wirth eines Gasthofes öffnet ihn; Arthur steigt blitzschnell heraus. Seine Tochter folgte ihm auf dem Fuße; doch der Unglückliche, verfolgt von den Phantomen seines Schreckens, rannte wie verzweifelt fort. Bis in die oberste Etage des Hauses stieg er hinauf, mit fürchterlicher Stimme schreiend: „Der Schlund, der Schlund!" Mit diesen Worten stürzt er sich aus dem Fenster. Unten hob man einen zerschmetterten Leichnam auf. Einige Tage nacb dieser schrecklichen Begebenheit saß ein junger Mann, bleich, mit entstellten Zügen, düster und schwelgend, an dem Bette einer Ster benden. Lucie lag ohne Bewußtsein im Fieber einer Gehirnentzündung. Einzelne abgebrochene Worte drangen von ihren blassen Lippen; von Zeit zu Zeit rief sie den Namen ihres Vaters, und einen andern Namen. — Ihre großen Augen drebten sich in tiefen Höhlen; sie erkannte den nicht, der Gebete für sie zu Gott sendete, sie drückte seine Hand nicht zum Abschied, und mit einer letzten Zuckung gab sie den Geist aus. Neben das Kreuz auf dem Friedhofe, wo ihre Gebeine zu Grabe bestattet wurden, legte Eduard eine kleine weiße Alpenrose nieder'; sie war welk und gebrochen, wie das Herz dessen, der an dem Grabe weinte. Druck von C. P- Metzer in Leipzig.