37 Alle ästhetischen Betrachtungen, alles Verstündniß der Geistesgrößen ans diesem und den vergangenen Jahrhunderten mögen Genuß, Zerstreuung und Erholung gewähren in gesunden Tagen und in den Häusern der Glücklichen und Wohlhabenden; im Unglück sind sie van geringer Kraft, uüd am allerwenigsten können sie dem Volke als Ersatz für die Religion geboten werden. Nichts Geheimnißvoll-Magisches, nichts Dunkles braucht des halb in den frommen Gefühlen enthalten zu sein. Von solchen Bestandtheilen die religiösen Ueberzeugungen Aller immer mehr zu reinigen, wird allezeit das Bestreben edeldenkender Menschen sein, ohne damit der Religiosität zu schaden. Denn sicher ist das Gebet für den Leidenden nicht weniger stärkend, wenn ihm auch gesagt wird, daß trotz seines Bittens doch keine Wunder geschehen werden. Die Belebung des Willens, die Beruhigung des Gcmüths, die Erhebung der Gedanken hängt von solchem Wähnen nicht ab. Je reiner und klarer unsere Auffassung der Welt ist, je verständiger unser Denken, desto mehr müssen auch unsere religiösen Vorstellungen und Begriffe sich verklären und damit unser gesammtes Leben. — Das weiß der wahre Libera lismus und muthet deshalb Allen, deren Einsicht und Glaube er läutern will, eine ernste, dauernde Arbeit des Geistes zu. Es ist falsch, wenn gegenwärtig seitens der liberalen Philo sophie gesagt wird: Das Denken, die wachsende Reife der Bildung und Einsicht müsse nothwendig zerstörend auf die religiöse Ge sinnung einwirken, so gut wie es unwichtig zn nennen ist, wenn die Strengorthodoxen die Vernunft vom Glauben trennen wollen, indem sie darauf aufmerksam machen, wie wenig der Mensch die göttlichen Geheimnisse zu durchdringen vermöge. Durch das Forschen und Suchen werden uns vielmehr die Schranken der menschlichen Geisteskräfte viel deutlicher, als durch das bloße Fühlen, und in Folge dessen wird die religiöse Stimmung viel dauerhafter, als wenn sie nur in halb unbewußten Empfindungen besteht. Durch