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36 hier am schädlichsten sind And richtet sich genau nur gegen die, welche die Wahrheit verfälschen. Wo er das Alte abtragen muß, weil es inhaltslos geworden ist, thut er es mit Pietät und mit klaren Vorstellungen von dem, was nun an die Stelle dieses Alten kommen soll. Dem wahren Liberalismus ist cs wohl bekannt, daß nicht Alle, wie überhaupt, so speciell in Bezug auf die Religion das gleiche Bedürfnis; haben können. Der gewöhnliche Mann hat andere Vorstellungen, als der Gebildete. Der Verstandesmensch will mehr eine verständige Religion, der Gemüthreiche eine, welche dem Gefühle Genüge leistet. Die Einen finden Gefallen und Erbauung an einem reich ausgcstatteten, prächtigen Cultus, die Andern an einem einfachen und nüchternen, die Völker des Südens sind andere, als die des Nordens; das lehrt die Geographie, Physiologie und Psychologie. Im Hinblick hierauf macht der ächte Liberalismus zur Mäßigung seiner Forderungen und zur Verwirklichung der rechten Freiheit von den Naturwissenschaften thatsüchlich Ge brauch, ohne bloße Redensarten im Munde zu führen von der großen Klarheit und dem Fortschritt grade dieses Wissenszweiges, wie eS der gewöhnliche Freiheitler thut. Aber nicht bloß Blutmischung, Phosphor und Größe des Gehirns, Geschlecht und Klima machen die Menschen verschieden, sondern auch Erfahrungen und Lebensschicksale. Wer jemals Ge legenheit gehabt hat, in die Noth und das Elend des Menschen lebens hinein zu blicken, der weiß auch, daß die Religion eine Helle, lichte Macht ist, den Gebeugten aufzurichten, den Verlassenen zu trösten, dem Verzweifelnden neues Vertrauen einzuflößen. Wie ein Nichts zergehn die Phrasen von Bildung, Freiheit und Menschen- thum vor der unwiderleglichen, gewaltigen Wirklichkeit. Niemals wird daher der wahre Freiheitssinn dem Volke, dem Armen und Heimgesuchten den Trost des Glaubens rauben wollen; denn er kann nichts Besseres, nichts Wirksameres an seine Stelle setzen.