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39 als bewußte im Gewissen, dem freudigen oder schmerzvollen Wissen um unsere Stellung zur göttlichen Liebe, die ihr Werk in uns hat. Am Gewissen ist die allgegenwärtige Allwissenheit oder die bewußte Allgegen wart Gottes in uns zur Anschauung zu bringen. Es zeigt uns, daß in uns selbst Gott um uns weiß, wie wir um ihn. Fassen wir die unmittelbarsten Bethätigungen der göttlichen Liebe, die Heiligkeit und die Gerechtigkeit, so, wie wir es gethan haben, dann wird von selbst klar, daß die heilige und gerechte Liebe auch Gnade ist. Die Heiligkeit ist wachsende Entfaltung der Liebe und damit fortgesetzte Ueberwindung des Bösen in den Bösen. Die Gerechtigkeit ist wachsende Beseligung der Guten und damit unwillkührlich fortgehende Mehrung der Unseligkeit in den Bösen. Aber alles ist nur eine einzige That der Liebe, die immer mehr in allen Seelen ihr Leben haben will, die also nicht die Seelen vernichtet, indem sie das Böse in ihnen vernichtet. Gott handelt allezeit mit uns nach seiner Liebe. Wie groß die Sünde auch werde, die Liebe ist nicht gelähmt. Sie dringt unablässig, nimmer rastend, immer wachsend, an alle Seele an, den in ihnen schlummernden Keim ewigen Lebens zu erwecken. Und die allmächtige Liebe kann ihres Erfolges schließlich gewiß sein. Wohl ergiebt sich bei ihrer nie ruhen den Selbsthingebung der Nebcnerfolg der Strafe; er aber ist zu Ende, sobald der Conflict beendet, der Mensch nicht mehr wider Gott, sondern für Gott ist. Gott wird als Gott, als Liebe, von dir wieder empfunden, sobald du wieder sein Kind, nicht mehr sein Feind bist. Das ist der Sinn der großen Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben, nach der Gott ein für alle Mal, nicht bruchstückweise, nicht mit dem Wachsthum unseres eignen Verdienstes, sondern rein aus Gnaden uns vergiebt. Die Vergebung ändert nicht Gottes Stellung zu uns, er war, ist und bleibt immer Liebe. Sie ist nur der Ausdruck dafür, daß wir nun in das rechte Verhätniß zu Gott getreten sind. Nicht durch unsere Kraft, sondern durch das Wachsthum der schöpferischen Liebe Gottes in unseren Seelen. Diese Anschauung macht Ernst mit dem christlichen Princip der Liebe; aber sie schwächt den Ernst der Strafe und des Gerichtes nicht ab. Ja, bei ihr erst kommt der Satz zu voller Geltung: wie schwer du's deinem Gott machst, so schwer machst du es dir selbst. Aber die allmächtige Liebe bezwingt deinen endlichen Widerstand zuletzt doch. Sie feiert ihren Sieg, nicht den, dich zu vernichten, sondern den viel höhern, dich zu gewinnen. Gott wird alles in allem sein, in jedem Sinn sich als ein Gott der Lebendigen, nicht der Todten erweisen.