10 lehre sie, die Natur und die menschliche Geschichte, also die ganze Schöpfung, als ein wunderbares Kunstwerk auffassen, in dem der Geist, das Leben Gottes waltet und der Menschenseele sich fühlbar macht. Jni Leben den lebendigen Gott zu finden, dazu muß das kindliche Ge- müth angeleitet werden. Die Freude, mit der es in einen: Gedicht den Künstler findet, dieselbe Freude iu ihrer Vollendung muß ihm iu dein Kunstwerk der Schöpfung, zu der als ihre Blüthe die Geschichte gehört, den gegenwärtigen Geist Gottes fühlbar machen. 4. Man gebe die engherzige Weisheit auf, die noch in den meisten Katechismen als Antwort auf die Frage sich findet: woraus lernen wir Gott kennen? Man antwortet: aus der Natur und der heiligen Schrift. Es muß heißen: aus der Natur und aus der Geschichte des menschlichen Geschlechts. Die heilige Schrift kam: gar nicht neben der Natur als das zweite Gebiet unmittelbarer Gottesoffenbarung genannt werden. Sie ist nur eine Darstellung eines Ausschnitts aus der Geschichte, wenn auch des höchsten und besten. Aber eine Offenbarungsurkunde kann nicht neben eine Offenbarung gestellt werden. Thut man es doch, dann hemmt man wieder nur den Eindruck, den die ursprüngliche Quelle selbst darbietet. Ohnehin verschließt man sich auf diesem Wege auch das Verständniß der Bibel und ihres Ursprungs. Ehe wir diese Erörterungen verlassen, müssen wir noch auf einen Umstand aufmerksam machen, der ein Helles Licht ans die Geschichte des Glaubens wirft. Wir haben den Grundsatz geltend gemacht: die Welt muß zu Gott, das Sichtbare zum Unsichtbaren, das Werk zum Schöpfer uns führen. Daraus ergiebt sich, in welch inniger Wechselwirkung die Erkenntnis; Gottes und der Welt mit einander stehen, daß diese auch im Stande ist jene zu fördern, und daß sie eben deshalb als eine religiöse Pflicht anzusehen ist. Mit der wachsenden Klarheit und Lau terkeit in der Auffassung der Welt, wird auch die Religion, die Er fahrung von Gott geläutert. Zwar knüpft die Religion das Band der Gemeinschaft mit Gott im Drange des inneren Lebens an; sie ist inso fern unabhängig von Kunst und Wissenschaft, eilt ihnen voraus und theilt ihnen die wirksamsten Impulse mit. Dies geschieht vor allem in den schöpferischen Geistern, in denen die Fortschritte in der religiösen Entwicklung sich vollziehn. Aber wo die Religion sich einbürgert in das Leben des Volks und verwachsen ist mit der Gesammtheit mensch licher Geistesthätigkeit, da macht sich auch fühlbar, wie die wissenschaft liche und künstlerische Entfaltung rückwirkend die Religion bestimmt und