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aufraffte, den Dingen auf den Grund zu gehen und selbst einmal narb dem alten Grenzstein zu schauen. Wir tun am besten, dem Manne aus Wilthen auf seinem Wege zu folgen. Aus dem Dorfe geht es, durch Wiesen und Felder, hinab in ein sanftes Wiesental, das von einem flinken Wässerchen in der Richtung »ach Kirschau durchflossen wird. Drei Mühlen, halb von Gehölz verborgen, geben dem Tal einen eigenen Reiz. Auf einigen Teichen, die, von alten Eichen umsäumt, den Lauf des Baches hemmen, tummelt stch allerlei Wafsergetier. Hüben und drüben schließt der Wald das Tal ein und längs des Mühlgrabens hält er sein Blätterdach schützend über den Weg, der vom Teich zur Mühle führt. Nun kreuzt der Weg den Bach und bald nimmt uns jenseits ehr würdiger Hochwald auf. Hier verläßt der Erbrichter den Pfad, der sanft bergan steigt, geht wenige Schritte quer durch den Wald und steht auch schon am Rande eines Kessels, den stch ein anderes Bächlein, die Pilke, die von Neu-Schirgiswalde her durch den Wald kommt, an der Berglehne ausgewaschen hat. Und hier, auf der Sohle des „Kessels", wie dieser Ort im Volksmunde heißt, steht er endlich die Säule des drcieckigest Grenzsteins aus dem Halbdunkel des Waldes aufleuchten. Während er sich zögernd den Hang hinabgleiten läßt, ist . ihm — trotz der frühen Morgenstunde -— doch ein bischen un heimlich zu Mmte. Denn um diesen abgeschiedenen Ort, mitten in den Wäldern zwischen Wilthen und Kirschau, spann schon immer die Sage ihr schillerndes Kleid. Schmuggler und Figen- ner wählten den Wankel, in dem es natürlich auch spukte, gern als ihren Lagerplatz, Und aus der Himmelschlüsselwiese, einer Waldwiese, die wenige Schritte bachaufwärts malerisch lag, ivölbten stch noch Grabhügel —- Soldatengräber ans den Be freiungskriegen. Halbmannshoch ragt der graue Stein, dicht am Bach, aus dem dürren Waldgras und in seine drei Seiten flächen find die M>orte cingegraben: Wilten in Meise. Kirsau in Lausnitz. Schirgiswalda in 4746 4746 Boehme. 4746 So steht dieser ehrwürdige stetige einer entschwundenen /seit noch heute und gibt einer Generation, die ihn kaum noch ver steht, Kunde davon, daß hier einst das Königreich Böhmen, nämlich die böhmische Enklave Schirgiswalde, das Königlich Sächsische Markgraftum Oberlausttz und die Mark Meißen aneinander grenzten. Hier stand nun der Erbrichter von Wilthen und blickte vor sichtig, spähend und lauschend, um stch. Aber nichts rührte stch, als der Wind in den Bäumen und nichts Verdächtiges zeigte sich ihm, bis sein Blick auf einigen Häufchen frischer Erde haf ten blieb, die einen Schritt vom Stein entfernt, merkwürdig ans dem dürren Gras hervorleuchteken. Er kniete nieder, unter suchte den Boden und mußte aus mancherlei Spuren feststellen, daß die Erde in einem kleinen Viereck aufgegraben, sorgfältig wieder zugeschüttct und die Grasnarbe wieder aufgelegt worden Ivar. Noch war an dieser Stelle das Erdreich weich und nach giebig und Steine lagen zwischen den Grashalmen. Da er sich kopfschüttelnd aufrichkete, erschrak er nicht wenig, als unver mittelt jemand ganz in der Nähe keckernd und hämisch lachte- Dann rauschte es in den Zweigen und ein Häher strich ab — auf diese Weise sein Mißfallen über den Störer des Wald friedens ausdrückend. Auch unserem braven Erbrichter blieb nichts zu tun übrig, als, recht nachdenklich und mit durcheinander geratenen Gedan ken. den Heimweg anzutreten. Während er einige Male ver weilte, um in das stille Waldtal hinab zu blicken, das die Pilke in der Richtung nach Kirschau, an der Karasmühle vorbei, durchfloß, fiel ihm die Geschichte von der Anno 4843 in Kir schau verschwundenen Kriegskasse der Franzosen ein und wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Auch daß wiederholt fremde Truppen auf der Kesselwiese in nächster Nähe des Grenzsteins gelagert hatten, war ihm noch wohlbekannt. Da zwischen drängten sich die Gestalten der beiden fremden Blan derer und ihr seltsames Fragen nach dem historischen Grenz stein. Hier mußten Zusammenhänge bestehen, das schien ihm ge wiß, und während er den Vorfall noch lange für sich behielt, formte sich nm so deutlicher in seinem Herzen ein Bild: Hwei französische Soldaten schleppen, die Abwesenheit oder die Nachlässigkeit des verantwortlichen Offiziers ansnützend, die Kriegskasse aus der alten Kirschauer Mühle in den nächtlichen Wald, der wenige Schritte hinter der Mühle beginnt. Sie folgen dem Wege nach Malthen bis zur Kesselwiese, suchen den dreieckigen Grenzstein, als ein unverwechselbares, einprägsames Merkzeichen, und graben den Schatz dicht neben ihm ein. Nach Frankreich zurückgekehrt, die Schlacht von Leipzig und manches Gefecht des Rückzuges im Rücken, lassen sie Jahr um Jahr vergehen, ohne etwas zur Bergung des Raubes zu tun. Wer weiß, was sie so lange an ihren häuslichen Herd fesselte, viel leicht Siechtum, vielleicht auch einfach die Unlust, nach den jahrelangen Kriegszügen wieder das behagliche Nest daheim zu verlassen. Endlich, nachdem sie selbst nicht mehr fähig oder nicht mehr willens sind, die weite Reise zu unternehmen, teilen sie ihren Söhnen das Geheimnis mit und diese begeben sich bald frohgemut mit dem Elan der Jugend auf den Weg nach Deutschland. Alles gelingt nach gut durchdachtem Plan und unangefochten kehren die Schatzgräber als reiche Männer nach Frankreich zurück. Hakte der Erbrichter von VUlthen mit seinen Kombina tionen recht? Wohl kann sich die Sache so abgespielt haben. Man könnte versucht sein, die ganze romantische Geschichte in das Reich der Fabel, zu deren Schauplätzen das Volk gern alte Mühlen und Grenzsteine wählt, zu verweisen. Doch ehe wir den Schlußpunkt setzen, ist eines Gastes, der still und als ein Schemen hier noch einmal in unsere Erzählung tritt, Er wähnung zu tun. Die Jahre gingen dahin. Man schrieb das Jähr 4854. In der alten Mühle in Kirschau war ein neuer Müller mit seiner Frau eingezogen. Da geschah es in einer Nkainacht. daß die junge Frau, die erst wenige Wächen zuvor einem Kinde das Leben geschenkt hatte, jäh aus traumlosem Schlafe erwachte. Ihr Kind schlief friedlich in der lWiege neben dem Bett. Die Tür zum Nebenzimmer war weit geöffnet und aus dem Tische des Raumes brannte, des Kindes wegen, die stille klamme eines Nachtlichtes, Und dort am Tische stand er, der stille Gast, ein unbekannter Soldat in der Uniform eines fremdländischen Offi ziers, stand und las, während sein Antlitz eine tiefe Trauer trug, in dem Gesangbuch, das nach alter frommer Sitte ge öffnet auf eben diesem Tische lag, und woraus die junge Frau vor dem Schlafengehen wie immer einen Vers gelesen hatte. Das fromme Buch war in der wendischen Sprache geschrieben, aber das bot wohl für den Gast aus dem Reiche der seligen Geister, wo alle Sprachen verstanden werden, kein Hindernis. Leise stieß sie ihren Ehemann, der unbeirrt neben ihr weiter schlief, an und hieß mit zitternder Gebärde den Schlaftrunkenen nach dem erleuchteten Nebengemach zu blicken. Der Muller wußte ihre ängstliche Erregung nicht zu deuten, sah er doch durch aus nichts als die Flamme des Nachtlichtes, die sich leise und rhythmisch bewegte. Erst als die Erscheinung still verschwunden war, konnte die bebende Frau ihrem Manne klar machen, was sie da eben gesehen habe. Sie besaß wohl die Gabe des zweiten Gesichts und so wurde ihr offenbar, was ihrem Manne ver borgen bleiben mußte. Niemals, bis zu ihrem Tode — sie starb im Jahre 4866 an der Cholera — konnte sie das ernste Gesicht des Gastes ans dem Reiche der Unsichtbaren veraessen und sie gab die Kunde von dem tiefen Erlebnis an ihre Kinder weiter. Sie »war in der Einfalt ihres frommen Herzens davon überzeugt, daß cs die Seele des unglücklichen französischen Offiziers von 4843, die ihre Ruhe nicht finden mochte, gewesen sei. Die Erscheinung hat sich seitdem nie mehr in der Mühle gezeigt und so endet unsere seltsame Geschichte in einer Region, aus der uns Sterblichen für gewöhnlich keine Nachricht zugeht. Solltest du, lieber Leser, die romantischen Schauplätze der Geschichte anfsuchen wollen, so wirst du sie wohl schwerlich wie der erkennen. Noch rauscht, die Spree über das Wehr zwischen Schloßbcrg und Felsenklippen. Aber sonst hat sich alles ver ändert. Die alte Mühle ist in einer Fabrik aufaegangen. Am Dreiländer-Grenzstein spürss du nicht mehr den Hauch des Ge heimnisvollen, der früher diesen Ort nmqab. Der Hochwald, die erhabene Kulisse des Ganzen, ist gerodet. Jenseits des steinigten Baches zieht sich eine moderne Siedlung hin. Die Fabrik anlagen sind dem „Kessel" recht nahe gekommen, und die