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Lin LaulitM Vesperbild in Nirdork In dem vorigen Aufsatz (Heft 40 vom 34. Oktober 4939 dieser Zeit schrift) habe ich mich bemüht, den geschichtlichen Rahmen zur Zeitbestim mung des Nixdorfer Vesperbildes zu geben, untersuchen wir heute, was sich aus Aorm und Stil des Andachtsbildes ergibt. Vergegenwärtigen wir uns das Bild der Zeit. Zwei Darstellungen desselben Nkotivö beleuchten schlagartig den Wandel der formen, also der Kunst in der Zeit von etwa 4300 bis 4400, der „Bamberger Reiter" und der „St. Georg" aus der Prager Burg, ersterer etwa nm 4300, letz terer um 4400. Beide sind uns Deutschen heute fast zum Symbol gewor den. Der Bamberger mir einer einzigartigen starken Architektur zusainmen- hängenv, statuarisch in sich selbst geschlossen, raumlos, einen Zustand darstellend, ist die Ruhe selbst. Beim Prager dagegen tritt die Hand lung an die Stelle des Zustandes, oje Szene an die Stelle der Repräsen tation, Vas Rkalerssche an die Stelle des Architektonischen, letztlich also die freie, um ihrer selbst willen schassende Kunst an die architekturbedingte der Steinmetzen der Bauhütten, die die großen Dome schufen. Die Zunft der Biloschmtzer mit ihrer Betonung des handwerklichen und mit ihrer Ver ankerung im bürgerlich-städtischen — nicht im ritterlich-höfischen Lebens gefühl sind die Träger der Kunst geworden. Das 44. Jahrhundert bringt ans diesem Gesinnungswandel heraus den neuen Inhalt der Kunst: das Anvachtsbild. Es ist- eine Vertiefung der bis herigen Darstellung der Leioensgeschichte nach dem Seelischen hin, aber auch gleichzeitig die Eroberung des Nebensächlichen, die Abwandelung ins Pro fane, ins Ntenschliche. Die Christus- und Johannesgruppe, der Jünger Jo hannes ruht an der Brust Christi; der Schmerzensmann, die erschütternde Darstellung des von den Martern auf einem Acls oder Baumstamm zu- sannnenacomkenen Herrn, entsteht die Grablegung, wirv vielfigurig oarge- stellt. Am wichtigsten aber wird, weil am deutschesten von allen Andachts- bilvern die Pieta oder besser das Vesperbild. Seine Entwicklung wurde im vorigen Aufsatz dargelegt uno mit den Schnitzwerken von Marienthal unv Radibor bebiloert. Die Entwicklung folgt durchaus dem Wandel der Stile, ivie er sich aus der deutschen Kunstgeschichte überhaupt ergibt. Das 45. Jahrhundert ist erst in den letzten Jahren durch die grund legenden Forschungen Wilhelm Pinders und seines Kreises der deutschen Wissenschaft erschlossen worden. Abläufe ergeben sich nach ihm für die Zeit von 4380 bis 4430 und von 4430 bis um 4470. Erst wird der „weiche" Stil der Gotik zu höchster Vollendung gebracht. In runden schwellenden iWogen umschließt das Gewand die geschwungenen Figuren mit ihren lieb lichen Gesichtern, die lange das ganze Kunstwerk durchfließende Linie betont den gewollten Eindruck. „Der weiche Stil verdient seinen Namen nicht nur durch seine formen, sondern durch seine ganze Stimmung, denn die sMelodik seiner Linien, die üppige Schwellkraft seiner Massen drückt eine selige Zu- ständlichkeit, eine zuweilen fast empfindsame Holdheit aus." (Pinder.) Böhmen mit seinen schönen Madonnen ist das führende Land deutscher Kunst in dieser Zeit. Zn ihm gehört die Lausitz nicht nur politisch, sondern auch als wirklicher Teil böhmischen KunstgebietcS. Bedeutende Schnitzfiguren der Zeit um 4400 sind der Johannes Evangelist« in Radibor und zwei Ma donnen der dortigen Pfarrkirche. Beide Madonnen von vornehmem Reich tum, die eine kaum viel älter, erinnert in der Gewandorganisation an das 44. Jahrhundert. Die Hüfte ist noch Aaltengabel, aber an beiden Seiten rieseln üppige Draperien. Bei der anderen ist die Diagonalität zurück- öild 1 kaüidor: /Vlarm mit bonü gedrängt, der Evangelist Johannes steht zwischen beiden Stufen. (Siehe Abbildung auf dieser Seite und auf den Seiten 44 und 42.) Den eleganten Stil der Böhmischen Madonna aus Wattingau zeigen einige prächtige Figuren in Cunewalde, der Bischof Nikolaus ist eine ausgesprochene ^Weiterentwicklung des „Hohenfurter Bischofs", dieses auch für Schlesien bedeutsam gewordenen Vorbildes. Nach 4430 folgen Jahre der Krise. Es ist kein Zufall, daß sowohl Zahl als Oualität der iWerke um die Jahrhundert mitte zurückgeht: die Entthronung der Plastik als dem vor nehmsten Ausdrucksmittel der Kultur des deutschen Volkes als Vorläufer der Entthronung aller bildenden Kunst überhaupt kündigt sich an, jener großer Grundvorgang der deutschen Kul tur, der sich der Reformation bedient, um eine neudeutsche Kul tur zu schaffen, die zwar keineswegs ohne bildende Kunst ist, doch nicht mehr von ihr geführt wird. Im wesentlichen wird die Kultur eine Angelegenheit des philosophischen, des dichterischen und des musikalischen Denkens. In der Geschichte der Gewandführunng wird der „weiche" Stil von dem „eckigen" abgelöst. Zwar betont der Name nur eine Einzelheit, aber sse ist bezeichnend. Die Grundformen sind noch dieselben wie bei den bauschig-breiten des weichen Stiles, aber die Aalten werden geschärft, und die lange schwingende Linie wird gebrochen und verschwindet dann ganz. Zur eckigen Linie gehört die Herbe und Eckigkeit des Kopfes und der Hände. Die ganze Gestalt wird gestreckt, die Gewandfalten werden unruhig, beginnen ein Eigenleben und werden gegen Ende dieser Periode, um 4470, knitterig, und, während der Oberteil der Aigureu durch die Parallelfältelung etwas starr Gestrafftes erhält, besonders im Unterteil vielfältig verschlungen und brüchig. Aber nicht nur Verschärfung und Verhärtung sind die einzigen Wege, den ruhigen Aluß der weichen Linien zu