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Nr. 25 Gbsrlausitzer Hslmatzsitung 387 tragen der fertigen Ware im Koppelsack zum Fabrikanten, von Maklern und Garnhändlern, so wie er es aus den Büchern kannte. Der alte Weber horchte schweigend zu und kroch wieder „hinter die Sitzebank" „Also, haben Sie vielen Dank, Herr Michel!" „Hats Euch gefallen?" frug der Lehrer. „Ja! Schön wars!" kams wie im Chor aus Kindermund. Die wilde Schar trollte sich aus dem Hause. Die Jungen stürmten auf die Straße. Die Mädel folg ten ruhiger. „Gebt Obacht! Hübsch Ordnung! An den Rand rüber!" Doch zwei Rangen achteten nicht auf die Mahnung. Sie balgten sich. Der Lehrer drohte. Ein Auto hupte. Kam um die Ecke. Der Lehrer schrie. Ehe die Jungen ausweichen konnten, wars schon ge schehen: sie lagen überfahren auf der Straße. Der Wagen schleuderte und fuhr Michels Damm hinunter. Die Lehm wand zitterte, bröckelte ab, aber hielt ihn auf. Ferdinand hatte den Kindern durchs Fenster nach gesehen. Seit langer Zeit war ihm diese Stunde wieder einmal ein Lichtblick gewesen. Und nun mußte das Unglück kommen. Er stieß einen Schrei aus und schob das Fenster auf. Dann lief er hinaus und kam wieder in die Stube. Er wußte nicht recht, was er tat. Mit einem Male wars wieder Nacht in seiner Seele. Er sah, wie sich Leute ansammelten, Sanitäter die Kinder in den Gasthof trugen. Die Menge schimpfte auf den Chauffeur. Einzelne auf die Kurve und den Schulmeister. „Das ist die heutige Schulmethode! Die Kinder spa zieren führen!" Einer rief: „Die Bude muß weg!" Ferdinand hörte es und schob das Fenster zu. Er hatte genug! Schon wieder sein Haus! „Das sind Menschen!" dachte er verbittert. „Diese Menschen!" knurrte er. „Aber uu grade uicht!" Er merkte nicht, daß der Bürgermeister eingetreten war. Erst als dieser anhub, erregt zu reden, hob er den grauen Kopf. „Was sagte ich Ihnen gestern? Da haben wirs! Hent schels Junge ist tot!" „Was? Tot?" sprang Ferdinand auf. „Ja, tot! Die Kurve muß weg!" „Die Kurve?" frug der Alte, und das Blut schoß ihm in den Kopf. „Das ists nicht! Der brauchte nur langsam fahren!" „Alles schon untersucht! Der ist richtig gefahren und hat sofort gebremst! Wir müssen Ernst machen, Herr Michel! Sie müssen raus!" „Nie und nimmermehr! Der nicht! Der dtche nicht!" Ferdinand hatte die Worte fast herausgesprudelt und war dicht vor den Bürgermeister getreten. Dieser wich den blitzenden Augen des Alten aus und wandte sich zur Tür. * Die alte Vollbrichen wurde nicht gerade feierlich emp fangen, als sie Ferdinands Stube betrat. Sie kam sonst nur Sonnabends und brachte ihm ein gewaschenes Hemd und frische Strümpfe. Heute aber, als sie von dem Unglück erfahren, machte sie sich sofort auf den Weg. „Nein, so ein Ding mußte werden! Der arme Junge!" jammerte sie. Ferdinand blieb stumm. Er saß am Spulrad. „Gleich tot gewesen ist er, auf der Stelle! Haft dus auch gesehn?" begann sie wieder. „Am besten, man hängt sich!" gab er zur Antwort. Die Alte merkte den Ärger, der an ihm fraß. „Was kannst denn du dafür? Da mach dir ja nichts draus!" redete sie ihm zu. Sie band das Kopftuch ab und setzte sich auf die Stu-lladr. Michel spulte weiter. Er gönnte ihr heute kein Wort. Sie tat, als merkte sie das veränderte Wesen nicht und wollte wenigstens das Ihre tun, um ihn aus andere Ge danken zu bringen. „Kriegst wohl immer wieder eine Weifte?" frug sie nach einer Weile. „Wie du siehst!" Was sie auch anfing, heute war nicht mit ihm zu reden. Sie merkte, das sie nichts ausrichten konnte, und ging heim. Unterwegs dachte sie mit Sorgen an sein närrisches Ver halten. * Ferdinand versank in Schwermut. Der Begräbnistag des kleinen Hentschel nahm ihn besonders mit. Er wagte kaum hinauszusehen, als der Leichenzug an seinen Fen stern vorbeikam. Den Blicken der Trauernden konnte er nicht standhaltcn. Er stöhnte auf, als die Glocken der nahen Kirche einsetzten nnd der durch das Unglück tief erschütterte junge Kantor mit den Schulkindern den Choral von der langen Todesnacht sang. Ihn schmerzte es in der Brust. Heute fühlte er, daß er auch bald diesen Weg gehen müsse. Das ärmliche Essen schmeckte ihm nicht mehr. Einmal saß er zur Vesper am Tisch und brockte sich Brotrinden in einen Topf kalten Kaffee. Er sah hinaus. Draußen wurde es Herbst. Am nahen Dorfbach färbte sich das Laub der Erlen. Die Menschen rüsteten für den Winter. In der Stube wurde es schon duster. Da trat der Wächter ein. Ferdinand erschrak und kaute hastig an seinem Bissen, daß ihm das Kinn bis zur Nasenspitze flog. Er ahnte nichts Gutes. Der Bürgermeister mußte Ernst machen und die Entscheidung des Ministeriums ausftthren. Zu den an gesetzten Verhandlungen war Ferdinand nicht erschienen; er ließ überhaupt nicht mehr mit sich reden. „Hier ist ein Brief", sagte der Wächter. Ferdinand trat damit zum Fenster. Die Hände zitter ten ihm. Er las mühsam: „Nachdem die letzte Instanz der Enteignung Ihres Hausgrundstückes zugestimmt hat, und übrigens wegen Baufälligkeit Ihr Haus leergestellt wer den muß, stellt Ihnen die Gemeinde eine Stube und Kam mer im Gemeindehause zur Verfügung. Sie werden nun mehr letztmalig aufgeforöert, morgen, den 25. Oktober, mit der Räumung Ihres Hauses zu beginnen. Ein Geschirr wird Ihnen gestellt. Wenn Sie dieser Aufforderung wiederum nicht Folge leisten, wird zwangsweise " Weiter kam er nicht. Die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen, wie feurige Sternchen. Er wankte nach rückwärts, riß den Stuhl um und sank auf die Lade. „Ah!" stöhnte er und wollte sich wieder erheben. „Das ists letzte, Wächter! Aber der nicht! Der nicht! Das kannst'n sagen!" schrie er heiser. Der Wächter ging schneller zur Tür hinaus, als er ge kommen war. Ihm würgte es selber im Halse. „Der arme Teufel!" dachte er und stapfte wie zerschlagen nach dem Gemeindeamt. * Ferdinand Michel saß noch immer auf seiner Stuhl- lade. Er hatte das Gesicht in beiden Händen verborgen. Er glich einem gehetzten Wild, das erschöpft auf der Strecke bleibt. Hoffnungslos sah er den ungleichen Kampf zu Ende gehn. Als er sich aufrichtete, war es dunkel. Drüben im Gasthofe brannten sie die elektrische Hoflampe an. Der grelle Schein drang durch die Fensterscheiben und ver breitete ein gespenstisches Licht in der Stube. Ferdinand lehnte mit dem Kopf am Garnbaum. Grade- aus, an der Wand, hing das Bild seines Sohnes, das hell die Hoflampe beschien. Er saß und starrte darauf. Kein Auge vermochte er abzuwenden. Ta wars ihm, als zwinker ten die Augen, als winkten die Hände des Toten. Entsetzen packte ihn. Eisig liess ihm über den Rücken. Doch der Kopf war so heiß. Fieberte er? Wars Furcht? Noch nie hatte er sich gefürchtet, seit er allein hier hauste. Eine unheimliche