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Kulturreste im Kinderreim und Kinderspiel Von Dr. Curt Müller-Löbau Seit der Kulturforscher unsere Volksüberlieferungen nach Kulturresten aus alter Zeit durchforscht, ist er auch auf die Tatsache gestoßen, daß sich vieles, was sonst die Welt der Erwachsenen schon längst abgestoßen hat, noch unter der Ktnderwelt als Brauch oder Liedchen findet. So gibt es unter dem Spielzeug der Kinder mancherlei, was einst in der Welt der Erwachsenen höchst ernste Bedeutung hatte. Da sind die alten Waffen, Bogen und Pfeil, die Armbrust, die Schleuder, ja selbst das Katapult, die uns noch im Spielbrauch der Kinder entgegentreten. Bet den Kindern noch macht der auf dem Jahrmarkt gekaufte „Waldteufel" viel Spaß, ein kleiner Holzzylinder mit Membran, der, an einem Faden geschwungen, einen seltsam surrenden Ton erzeugt. Dieses Lärminstrument ist weiter nichts, als eine Form des sogenannten Schwirrholzes, das bei den verschie denen Naturvölkern als Zaubergerät zur Bannung der bösen Geister gebraucht wird. Wie hier uraltes Kulturgerät zum Kinderspielzeug herabgesunken ist, so hat sich mancher mit volkstümlichem Reim oder Lied verbundene Kinder brauch als Kulturrest aus ältesten Zeiten erhalten. Einige Beispiele sollen das erweisen. Noch immer wird in der Kinderstube ein Zauberbrauch geübt, indem die Mutter dem Kinde, bas sich verletzt hat oder sonstwie ein „Wehweh" zu gefügt hat, dieses Leid „bespricht", d. h. mit einem Trost reim das „Wehweh" streicht und mit diesem linden Strei cheln wie mit dem häufig scherzhaften Reim tatsächlich den Schmerz des weinenden Kindes bannt. Da heißt es wohl: Heile, heile, Kätzel, der N kriegt ä Schätze!, kriegts Kätzel en langen Schwanz, is 'n N sei Köpf! wieder ganz. (Vogtland und Erzgebirge.) Heile, Kätzel, heile, der Haase hat vier Beine, die Katze hat en langen Schwanz, da wird das Böse wieder ganz. (Bautzen.) Heile, heile, Katzendreck, morgen früh is alles weg. (Vogtland, Erzgebirge, Leipzig.) Heile, heile, Segen, morgen gibt es Regen, übermorgen Schnee, da tuts nich mehr weh. (Allgemein in Sachsen.) Um das Blut zu stillen, spricht man: Blut, bleib stille, das ist Gottes Wille. (Elstertrebnitz bei Leipzig.) Diese Trostsprüche ähneln in ihrer Form wie im In halt und der Art der Anwendung den uralten Wund- und Blutsegen, die schon aus altgermanischer Zeit (z. B. in den Merseburger Zaubersprttchen) überliefert sind und in vielen Lesarten noch im volkstümlichen Heilbrauch vorkommen. Daß sich im Kinderbrauch der einst völlig ernst genommene Zaubersegen manchmal in einen Spottreim verzerrt, er kennt man an folgenden Trostreimen für weinende Kinder, die von anderen Kindern gern als Scherzsprüche verwendet werden: Nudelnuöelnut, bei Finger blut't, steckn in A . . „da wardr gutt. (Oberlausitz, Erzgebirge.) Nuddel, nuddel, Leiersack, morgen is e Feiertag, übermorgen wieder eener, dann de ganze Woche keener. (Oberlausitz.) Einen ganz ähnlichen Zauberbrauch des Besprechens unter Anwendung von Reimformeln wenden unsere Jun gen an, wenn sie im Frühjahr sich Pfeifchen aus Weiden rinde oder Dudelsäcke aus Erlenrinde Herstellen wollen. Jedenfalls ist es bei beiden Arten von Frühlingsinstru menten eine wichtige Sache, die Rinde und den Bast zu lösen, ohne sie zu verletzen, und dabei helfen unfern Jungen wie anderwärts auch uralte Zaubersprüchlein, die der Volkskundsforscher als „Bastlöserreime" „Muppen" oder „Pfeifenreim«" bezeichnet. Wie man seit altersher im Volke Sprüche und Sagen anwanbte, um das Blut zu stillen, Wunden, Warzen und sonstige Gebrechen zu besprechen, so hatte Man wohl (so nach Jacob Grimms Ansicht) Zauber sprüche, die man auf Bast und Rinde einritzte. Solche ein geritzte Zeichen mit zauberischer Bedeutung sind ja auch die altgermanischen Runen gewesen, ebenso wie die „Buch staben" ursprünglich nichts anderes waren, als „Buchstäb chen" oder „-Zweige", auf denen die Zauberrunen zu Los- und Weissagung eingeritzt waren. Die Bastlöserreime wei sen wie in ihrem Gebrauch auch in ihrem Inhalte auf ur alte Weltanschauungen hin, sie deuten mythische Beziehun gen, so auf Wasser- und Baumgeister an, die uns heute völlig unverständlich sind. Unsere Kinder stört der unver ständlich gewordene Inhalt durchaus nicht, das beobachten wir an vielen altüberlieferten Kinderreimen: die Haupt sache ist ihnen der Rhythmus der Worte, der die Tätigkeit des Rindenschlagens begleitet. Indem unsere Knaben ihre rhythmischen Bewegungen durch ein Liedchen taktmäßig markieren, üben sie den uralten Brauch des Singens bei rhythmischen Arbeiten, wie er früher allgemein gang und gäbe war. Nach altem Volksglauben steigt der Saft vom 20. Jan. an in den Bäumen empor. In der Lausitz heißt es wie anderwärts: Fabian, Sebastian, fängt der Baum zu saften an. Daher in Niederdeutschland das Huppenltedchen: Fabian, Sebastian, lat mi de Weidenflöt afgahn. Oft ist es nur ein einfacher Zuruf, der, taktmäßtg wiederholt, das Pfeifenklopfen begleitet: Schnaatel, Schnaatel, gieh ock oab. (Ebersbach.) Dem noch in der Rinde steckenden Pfeifchen, das man herausklopfen will, werden aber häufiger allerlei Drohun gen zugerufen, selten etwas Gutes in Aussicht gestellt: Schnaatel, gih oabe, gih mit mer zo Groabe. (oa fast gleich o.) (Olbersdorf.) Und ruh und ruh, a Pfipsl derzu. (Eibau.) Schnaatel, mei Schnaatel, gih mit mer as Staabtel. Pfeifel, Pfeifel, gih ock ab, sonst werf ich dich in'n Graben, da fressen dich de Raben. (Eibau.) Schnaatel, Schnaatel, gih mer los, sonst werf ich dich in'n Graben, da fressen dich die Raben da fressen dich die Müllermicken, die dich hinten und vorne zwicken. (Neugersdorf.) In manchen Bastlöserreimen ist auf ein rotes Männ lein hingedeutet, von dessen Erscheinen bas Gelingen des Pfeifchens abhängig ist. Das ist wohl ein Hinweis auf den Wassergeist, der sich durch ein rotes Röckel oder rote Strümpfe kenntlich macht. Poche, poche, Pfeisel, 's Mannel sitzt im Teichel, Hot a rutes Röckel an, will so gern e Pfeifel hon. (Olbernhau i. Erzgeb.) Pfietsch, pfietsch, geh roo, schöpf dein Teich oo! Geht ä Männel über die Wies', bringt ä Tüpfel voller Klietz, wies Männel wiederkam, wars Pfeifel abgetan. (Vogtland.) Man hat im Kinderreim und Kinderspiel vielfach mythische Nachklänge des alten Heidentums zu finden ge glaubt, ist aber in dieser Hinsicht häufig viel zu weit ge gangen, indem man darin Andeutungen bestimmter Götter gestalten und Seren Verehrung bet unseren Vorfahren ge funden haben wollte. Bei dem im Kindermunde so vielfach veränderten Wortlaut der alten Reime ist es aber sehr schwierig, solche Schlüsse zu ziehen, zumal ja tatsächlich die Göttergestalteu des altgermanischen Glaubens durchaus nicht so festumrissen und zahlreich in Deutschland gewesen sind wie bei den Nordgermanen. Mehr ist es der niedere und ältere Volksglaube gewesen, der auch in den volkstüm lichen Kinderüberlieferungen interessante Spuren hinter-