Volltext Seite (XML)
Der Streit um den Brunnen Nach einer mündlichen Überlieferung Von Martin Weise „Seit altersher ist der Brunnen mein!" „Nein! Er gehört mir!" „Mein Vater selig und mein Großvater selig haben schon aus ihm das Wasser geschöpft. Er steht auf meiner Flur!" „Nein, er gehört mir! Hast du auch jetzt dein Wasser aus ihm geholt, so ist es nun vorbei!" „Ich werde es dir beweisen, wem der Brunnen ge hört und auf wessen Flur er steht. Morgen gehe ich zum Advokaten in die Stadt. Merk dir. Du könntest weiter dein Wasser aus meinem Brunnen holen, wenn nicht Euer Franz, dieser Schlappsack, dieser Tunichtgut, dieser Schür zenjäger meiner Liese den Kopf verdreht gemacht hätte. Aber nun ist es aus, sage ich. Denn der Brunnen ist mein, seit altersher! Sage ich!" Wie zwei Hähne stehen sich der Ehrenfried Seidel und der Leberecht Benedikt gegenüber. Der Brunnen bildet die Grenze. Lange Jahre sind sie gute Nachbarn gewesen, haben sich gegenseitig ausgeholfen und keiner hat gefragt, wo die Grenze zwischen ihren beiden Anwesen läuft und wer der eigentliche Besitzer des Brunnens ist. Seit drei Tagen sind sie darüber in Streit geraten. Nur eine Kleinigkeit ist der Anlaß gewesen. Des Leberecht Benedikts Ältester hat sich seit geraumer Zeit mit der einzigen Tochter des Seidel bauern eingelassen. Vor einigen Tagen hat der Seidel bauer die zwei in später Abendstunde im Grasgarten unter einem blühenden Kirschbaum angetroffen. Darüber ist er in grenzenlose Wut geraten. Mit der Peitsche hat er sie auseinandergctrieben. Sein Mädel kann eine bessere Par tie machen. Die braucht nicht in die kleine Tagelöhnerwirt- schast des Benedikt zu heiraten. Da gibt es noch genug reiche Bauernsöhne im Dorfe, die sich die Finger nach ihr lecken werden. Dieses Feuer darf nicht erst lichterloh bren nen, das muß gleich im Keime erstickt werden. Mit der guten Nachbarschaft muß cs nun ein Ende nehmen. Der Brunnen sollte hierzu der erste Anlaß sein. Am nächsten Morgen hat der Seidelbauer dem jüngsten Sohne des Leberecht Benedikt verboten, das Wasser aus dem Brunnen zu entnehmen. Sein Brunnen sei kein öffentliches Wasserwerk, hat er ihm gesagt. Am Mittag ist Leberecht Benedikt selbst mit den Wasserkannen am Brunnen er schienen. Da ist Ehrenfried Seidel das erste Mal mit ihm in Streit gekommen. Und seit dem sind drei Tage lang jeden Morgen und Mittag und Abend harte Worte zwi schen den beiden gefallen. Nun stehen sie wieder zusammen am Brunnen, der Ehrenfried und der Leberecht Benedikt, und streiten sich um das Recht. Am anderen Morgen zieht sich der Ehrenfried den Kirchenrock an und geht in Sie Stadt. Ha, er wollte es dem Leberecht schon beweisen lassen. Recht muß Recht bleiben. Und auf Entschädigung will er den Leberecht auch noch ver klagen. Das viele Wasser, das er in den langen Jahren verpantscht hat, das muß er ihm noch bezahlen. In der Stadt geht der Ehrenfried schnurstracks zum Advokaten. Der Dr. Salomon, von dem man sich erzählt, daß er jeden Prozeß gewinnt, wohnt am Markt. Ihm trägt der Ehrenfried sein Anliegen vor. „Mein Nachbar, was der Leberecht ist, will wissen, daß der Brunnen, der in meinem Hofe steht, der seine sei. Das ist nicht wahr! sag ich. Das lügt er! Das Gericht soll es- ihm beweisen, diesem Gernegroß, wem der Brunnen ge hört. Seit Menschengedenken ist der Brunnen in unserer Familie gewesen. Nun will der Leberecht, dieser Klug schwätzer, aus einmal anders wissen. Erst bei seinem Mist haufen läuft die Grenze, und der liegt wenigstens zwei Meter hinter dem Brunnen. Herr Doktor, ich sage es, wie es wahr ist. Nehmen Sie sich meiner an und führen Sie den Prozeß, Saß ein Urteil zustande kommt, an dem der Leberecht sein Leben lang zu kauen hat. — Ich will —, daß er einen ordentlichen Denkzettel kriegt! — Und das Wasser, das er seit mehr als zwanzig Jahren, seitdem der Hof und Brunnen in meinen Händen ist, verpantscht hat, muß mir der Leberecht noch bezahlen." — Der Ehrenfried steht auf, pocht mit seinen starkknochigen Fingern auf den Tisch und sagt: „Ich will es ihm schon heimzahlen und seinem Jungen mit, diesem Lackel! Einem des Nachts das Mädel aus dem Hause zu stehlen und den Kopf verdrehen, ist das eine Art, frag ich?" Der Advokat sitzt hinter dem breiten, von Akten über ladenen Tisch und schmunzelt. Die Morgensonne liegt auf einen: starrköpfigen, knochigen Bauerngesicht. Eine Fliege rennt am Fenster hinaus und herunter und will hinaus in den Frühling. Nach einer Pause beginnt der Advokat: „Das ist sehr schön von Euch, daß Ihr mir den Auftrag geben wollt. Und ich würde es dem Leberecht schon beweisen, wem der Brun nen gehört, wenn " und hier nahm der Advokat seine goldene Brille von der Nase und rieb sich die Augen, um vor dem Ehrenfried etwas zu verbergen —, „. . . wenn ich nicht vor einer halben Stunde dem Leberecht versprochen hätte, den Prozeß gegen Euch zu führen und dafür einzu treten, daß der Brunnen dem Leberecht gehört!" Eine Wolke jagt an der Frühlingssonne vorbei und hüllt das Amtszimmer für Augenblicke in Dunkel. Der Ehrenfrted steht wie eine Holzfäule. Seine Finger kramp fen sich um die Armlehne seines Stuhles. Der Ausdruck seines Gesichts ist wie der eines Irren. „Was — —, was, der Leberecht, der Le—berecht —, dieser Sakra — ist schon hier gewest? — Und — Ihr nehmt Euch seiner an? . . . ." Langsam.sinkt der Ehrenfried in seinen Stuhl zurück. Er kann nichts mehr sagen. Stiert nur den Advokaten wilden Blickes an. „Na, nehmt es nicht so tragisch," meint der Advokat. „Es gibt noch mehr tüchtige Advokaten in dieser Stadt, bei denen der Leberecht noch nicht gewesen. Und wenn Ihr meint, der Brunnen sei Euer, dann müßt Ihr auch den Prozeß gewinnen." „So wahr ich hier stehe, der Brunnen ist mein!" „Geht doch zum Advokaten Säuberlich in der Jacobs- gasse. Das ist ein tüchtiger Mann und wird Euere Sache schon vertreten," sagt der Advokat. „Ich werde Euch eine Empfehlung an ihn schreiben, die gebt Ihr ihm und dann berichtet Ihr ihm gut!" Der Advokat sitzt in seinem Armstuhl und schreibt. Nur das Kratzen der Feder und das Brummen der Fliege am Fenster ist zu hören. Sonst ist es totenstill in der Amts stube. „So," meint der Advokat und gibt dem Ehrenfried einen Zettel, „nun geht und versucht Euer Glück. Und vor Gericht sehen wir uns wieder!" — Der Ehrenfried steht auf dem Markt in der Hellen Frühlingssonne, den Zettel des Advokaten in der Hand, den er zum anderen Advokaten bringen soll. Er weiß nicht, wie er die Treppe herunter gekommen ist. In seiner Hand knistert der Zettel. Da besinnt er sich wieder. Ha, das mußt du wissen, was der Advokat für eine Empfehlung geschrieben hat, denkt der Ehrenfried. Er nimmt das Papier, entfaltet es und versucht zu buchstabieren. Was ist denn das? Kann er nicht lesen? Er hat es doch in der Schule nebst Rechnen und Schreiben gelernt. Das sind doch alles fremde Hieroglyphen, das muß Latein sein, denkt der Ehrenfried. Aber wissen muß ich es, was er da auf den Zettel geschrieben hat. — Halt! der Apotheker, der kann doch Latein. Der Doktor malt doch auch immer solche Kraxliche auf die Rezepte und der Apotheker kann es immer gleich lesen.