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162 Gberlauflizer Heimatzettung Nr. 11 Wollen wir uns jedoch nun der heimischen Landschaft selbst zuwenden! Wie wandelt sie sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt! Jeder ältere Lausitzer, der sie längere Zeit hin durch zu beobachten Gelegenheit hatte, wird davon zu er zählen wissen. Und stellen wir uns erst vor, einer, der vor 20 Jahren ausgewanöert ist, käme heute heim auf Besuch! Wie würde er das Wachstum der Ortschaften, die Ausdeh nung des Verkehrs auch bei uns bestaunen, das Verschwin den von mancher Zierde der Landschaft und von mancher guten alten Sitte zu beklagen haben! Noch leben Leute unter uns, die sich auf die Einführung der Eisenbahnen in der Oberlausitz besinnen,' noch mehr wissen vom ersten Fahr rad zu erzählen oder vom ersten Auto, das in Gestalt eines harmlosen Landauers, und doch Mißtrauen erweckend, eines schönen Tages durch die Gegend holperte. Die „gute alte Zeit" liegt für uns nicht in irgendwelcher nebelhaften Ferne, sondern sie reichte ja bis an den Beginn des Welt krieges heran. Als dann das große Blutbad beendet war, da war es, wie man fast allgemein sagen wird, mit der schönen, vorkriegsmäßigen Gemütlichkeit endgültig vor über, und unsere neue Zeit will aus Kämpfen und Krämp fen gar nicht herauskommen. Wie wird es nun weiterhin werden? Biele mögen überhaupt nicht auf diese Frage ant worten. Viele seufzen: „Immer schlechter wirds!" oder gar: „Immer verrückter wirds!" Wer so spricht, der ist freilich innerlich nicht mehr jung,- denn Jugend hat immer Hoff nung, und kraftvolle Jugend möchte die künftigen Tage an sich heranreißen, um das Beste daraus zu formen, d. h. ihr Glück. Die Hauptursache dafür, daß es in der Heimat nicht nur, sondern in der ganzen Welt so sehr anders geworden ist und in immer schnellerem Tempo sich ändert, ist, wie wir wissen, die überaus rasche, wie in einer Fieberhitze er folgende Entwickelung der Zivilisation. Man redet ja wohl auch von einem „Siegeszug der Technik" und registriert stolz täglich neue Erfindungen oder Verbesserungen des Er fundenen. Naturgemäß hat sich auch unsere Oberlausitz, ob gleich sie eine etwas abseitige Landschaft in Deutschland ist, dieser grandiosen Invasion der Maschine öffnen müssen. „Der eiserne Mann", wie ein amerikanischer Schriftsteller die Maschine genannt hat, ist im Begriff, auf allen Lebens gebieten unumschränkte Herrschaft zu erlangen. Und man mag noch so sehr bedauern, daß die Technik die Menschen bis in die fernsten Täler hinein seelisch betäubt und ver giftet, man wird doch diese ungeheure Macht nicht aufhalten oder zurückwerfen können. Man muß sich immer vor Augen halten, daß unsere Zivilisation ein Kind der Großstädte ist und in diesen auch heute noch ihre Hochburgen besitzt. Mit den technischen Er rungenschaften, die sich von den industriereichen Städten aus über das Land verbreiten, überflutet auch der städtische Geist die Dörfer. Diese» städtischen Geist betrachten viele, die um die Zukunft ehrlich besorgt sind, als etwas sehr Verderbliches. Vor dem Kriege wirkte der Geist der Städte geradezu als Magnet auf die Umgebung. Viele Landbewohner ließen sich damals betören und siedelten nach der Stadt über, wo ihnen leichterer Verdienst und bequemere Lebensführung winkten. Man sprach von einer Landflucht, und tatsächlich schwollen viele Städte in kurzer Zeit ungeheuer an. Wäh rend des Krieges und in den darauffolgenden Jahren zeig ten sich recht empfindlich die Nachteile einer solchen Zu sammenballung, und mancher ausgehungerte Stadtfrack zog aufs Land hinaus Hamstern. Und was sehen wir jetzt? Die Landflucht hat fast ganz aufgehört, die Städte sind voll bei nahe bis zur Aufnahmefähigkeit. Natürlich wachsen sie äußerlich vorläufig noch, und in illustrierten Zeitschriften tauchen nicht selten abenteuerliche Abbildungen auf, unter schrieben etwa „Das Zukunftsbild der Großstadt". Aber die Ausbreitungsmöglichkeiten der Städte sind immerhin begrenzt; die Furcht ist vorhanden, sie möchten sich zu allzu unförmigen, gefährlichen Kolossen auswachsen. Die neuen Stadtviertel sind viel lockerer gebaut als die Häuserblöcke der Vorkriegszeit; sie wirken oft ländlich. Die ganze Siede- lungsbewegung ist schließlich eine Art Stadtflucht. Und die Zahl der Städter wird ja auch immer größer, die am Wochenende nach sauren Arbeitstagen mit größter Freude die Enge und Unfreiheit der Städte hinter sich lassen und draußen auf dem Lande Befreiung und Erholung suchen. Wir sehen sogar oft, daß auch die Industrie neuerdings die Stadt flieht und neue Arbeitsstätten entfernt von ihr auf baut. Man hat weiter davon gehört, daß moderne groß zügige Architekten schon nicht mehr Pläne für die Erweite rung einer Großstadt ausarbeiten, sondern Generalsiede- lungspläne für ganze Landschaften entwerfen. Das ist mei nes Wissens z. B. für das Dreieck Halle—Bitterfeld- Merseburg geschehen. Eine ganze Landschaft also soll Stadt werden! Der städtische Geist, der früher hauptsächlich angezogen hatte, strömt jetzt in mächtiger Weise sich selbst aus und will sich das Land untertan machen. Die Stadt als ungeheurer Kräftebehälter fließt über und durchtränkt die Umgebung weit und breit mit ihrem Geiste. Wie zeigt sich das in unserer Oberlausitz? Es zeigt sich äußerlich dadurch, daß die Oberlausitz be sonders in ihrem südlichen Teile im Begriff ist, eine einzige große Stadt zu werden. Verbinden wir einmal auf der Landkarte die Städte Bautzen, Bischofswerda, Zittau, Lö bau und wieder Bautzen durch Linien! Es entsteht ein rie siges Viereck, innerhalb dessen hauptsächlich die „Zukunfts stadt Oberlausitz" gelegen ist, eine einzige große, aufge lockerte, durch Anlagen, ü. h. Fluren, Wälder, Berge unter brochene Stadt. Wer es wissen will, wieweit diese Stadt sich schon gebildet hat, der braucht nur von einem der aussichts reichen Berge inmitten der Riesenstadt Ausschau zu halten oder mag sie auf der Eisenbahn, etwa von Bischofswerda nach Zittau, durchqueren. Die Grenzen zwischen den Dör fern, d. h. den Stadtteilen, sind vielerorts schon verwischt; ein Dorf hängt am anderen, und alljährlich entstehen neue Siedelungen, die das noch freie Gelände füllen, Verbin dungen zu Nachbarorten schaffen. Man betrachte sich doch die Jndustrieöörfer des oberen Spreetales z. B., wie sie unaufhaltsam zusammenwachsen. Sicherlich werden sich alle diese Ortschaften in Zukunft, der Stimme der Vernunft und dem Zwange folgend, noch mehr zu Verbänden zentralisie ren müssen. Und wenn sie auch ihre politische Freiheit noch bewahrten, die Tatsache bliebe doch bestehen, daß sie längst nicht mehr in sich abgeschlossene Dörfer, sondern Stadtteile sind. Uns, die wir in dieser Landschaft von Kindesbeinen au leben, fällt das alles kaum noch auf; aber lassen wir ein mal einen auswärtigen Beobachter, aus Ostpreußen etwa, die Oberlausitz bereisen: sein Staunen wird uns belehren und aufklären können. Mau wird mir entgegenhalten, daß innerhalb dieser Zukunftsstadt die Entfernungen z. T. doch noch respektabel sind, nehmen ivir an zwischen Bischofswerda und Zittau, und daß seitlich der Ortschaften oft noch weite, gcbäudelvse Strecken liegen. Doch was bedeuten Entfernungen heut zutage noch? Wie nahe sind sich sogar Erdteile gerückt, seit Luftfahrzeuge in lächerlich kurzer Frist uns über uner meßlich gewesene Meere tragen! Bewirken nicht die moder nen Verkehrsmittel, daß Leute, die kilometerweit vonein ander wohnen, doch unmittelbare Nachbarn sind, da sie ja in wenigen Minuten zueinander gelangen können? Ent fernungen trennen wahrhaftig nicht mehr, sie sind auf dem besten Wege, Illusionen zu werden. Laßt wiederum alte Leute erzählen, wie wesentlich ihnen noch die Entfernungen waren! Einst mußte man von Bautzen aus zu Fuß stramm einen Tag marschieren, um nach Dresden zu gelangen. Durch die Postkutsche wurde die erste Attacke auf das Pro-