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Nr. 1<) «Dberlausitzer Hslmatzeitung 155 Der Fremdling Von Oskar Schwär Unter den Leuten, die dem Zug entstiegen und dann im Gänsemarsch am Bahnsteigschaffner vorbei ins Stations gebäude traten, fiel ein Herr von großer, breiter Gestalt und schlicht vornehmem Wesen auf. Er wurde von vielen Arbeitern, Bauern und Bahnbeamten erkannt und gegrüßt, und er dankte, indem er den Grüßenden freundlich, aber kurz zunickte. Er schien es eilig zu haben. Auf seinem Ge sicht lag eine Spannung. Als einer der ersten erreichte er den Ausgang. Der Wind peitschte ihm Regen und Schnee entgegen. Den Mantelkragen hochschlagend, stieg er die Stufen hinunter und trat in den finstren, nassen November abend. „Der Doktor!" sagten die Leute zueinander. Sie sahen sich draußen um, ob eiu Wagen bereitstünde, den Herrn ab zuholen. Aber nur ein paar Milchwageu standen da. Doktor Grnndmann marschierte schon vorn auf der Straße. Im Schein einer Laterne konnte man ihn noch erkennen. Da verwunderten sie sich und sagten: „Warum ihn Grund manns nicht abholen? Ob sie nicht wissen, daß er kommt?" Indessen schritt der Doktor rüstig voraus. Der Weg war ihm so vertraut, daß er sich in stockfinstrer Nacht oder im dichtesten Schneegestöber und über eine alle Male der Landschaft verhüllende Schneedecke zurechtgefunöen hätte. Wie oft mochte er diesen Weg zurückgelegt haben, zu Fuß, zu Wagen und zu Pferde, als Knabe, als Schüler und als Student! Und auch als Mann. Denn auch seit er in der Hauptstadt sein schönes Amt inne hatte und dort sehr glück lich verheiratet war, verbrachte er jährlich mehrere Wochen in der Heimat. Wurden die Ferien durch Reisen ausgefüllt, so besuchte er die Eltern und den Bruder wenigstens zu Ostern oder Pfingsten. So gern wie er selbst kamen auch seine Frau und seine beiden Kinder nach Pließdorf, wo sie in Grunömanns Gut, Garten und Feld sich tummeln konn ten. Ja, für die Kinder bedeutete Pließdorf das Paradies: sie fütterten die Hühner und Tauben, trieben Gänse und Enten in den Bach, hüteten die Schafe und Kühe auf der Wiese, halsen der Magd im Stalle und in der Scheune, fuh ren mit dem Knechte die Milch zur Station, mit dem Vater aufs Feld. Denn Dr. Paul Grundmann trat nie als Som merfrischler auf. Daheim war er Bauer, den Eltern und dem Bruder ein tüchtiger Knecht. Und es freute ihn, daß seine Familie die Menschen und Verhältnisse des Dorfes lieben und verstehen lernte. „Hier im Bauernland ist unser aller eigentliche Heimat!" sagte er. Die Eltern, Verwandten und alle Pließdorfer rechneten ihm seine treue Gesinnung sehr hoch an und schätzten ihn um so mehr. Alle sahen sie „den Doktor" gern kommen. „Der Doktor sagt es auch!" hieß es oft, wenn einer die Richtigkeit seiner Meinung be kräftigen wollte. In diesem Jahre hatte Dr. Grundmann nicht nach Pließdorf kommen können,- im Frühjahr waren die Kinder am Scharlach erkrankt, die Sommerferien hatte er mit der Familie an der Nordsee verlebt. Nun aber war es höchste Zeit. Daher nahm er plötzlichen Urlaub, daher reiste er trotz des miserablen Wetters, daher eilte er jetzt, ohne ein mal zu ruhen und ohne auf Pfützen und Schmutz zu achten, die Fahrstraße nach Pließdorf zu. Ja, er wagte sogar, wo die Straße den groben Bogen um den ersten Hof mit sei nen weitläufigen Gebäuden machte, eine Abkürzung, indem er einen Fußpfad durch die Wiesen Hinterm Hofe ging. Das war nicht ungefährlich, es gab sumpfige Stellen, mehrere Wasserläufe, auch führte der Pfad dicht am Teiche vorüber. Aber Grundmann mußte so rasch wie möglich heim. Mochte er vom Kopf bis zu den Füßen durchnässen, er durfte sich nicht schonen. Nur tastete er, wo er einen Graben vermutete, mit dem Schirm, den er wegen des Windes nicht aufge spannt hatte, vor sich hin. Endlich war er im Dorfe. An der Straße grüßten ihn links und rechts freundliche Lichter aus den Häusern. Von den Gütern, die rechts oben an der flachen Lehne standen, kam nur ein schwaches Blinzeln durch den Vorhang von Regen und Schnee. Zwei, drei Menschen eilten an ihm vorüber und riefen ihren kurzen Gruß. Er erkannte sie nicht, aber sie schienen ihn aus seiner Stimme zu erraten,- denn er hörte den einen hinter sich sprechen: „Nanu, war das der Doktor?" Dicht Hinterm Friedhof, der die kleine Kirche umgab, stieg er einen Fußweg rechts hinauf. Zwei Lichter leuchte ten ihm immer Heller. Dann vernahm er die Stimme einer Magd. Der Hund schlug an. Die Hintertür fand der Ankömmling verschlossen. Er ging um Sie Ställe herum zum Tor, das noch offen stand. Der Hund bellte und zerrte an der Kette. „Guten Abend, Wollax!" rief ihm der Doktor zu, wor auf der Hund freundlich winselte. Da kehrte der Doktor, der schon ein paar Schritte nach der Haustür gemacht hatte, um, und ging nach dem Pferöestalle zu, vor dem die Hunde hütte stand. „Nun, Wollax! Freilich, bist der Alte, Gute!" Er streichelte ihn. „Los willst du? Na gut, sollst du, komm mit herein!" Er löste die Kette, der Hund umsprang ihn mit Freudengebell. Da wurde die Haustür geöffnet. „Wer ist draußen?" rief die Magd. „Keine Bange! Gut Freund!" „Ach, der Herr Doktor! Guten Abend! — Gott, Sie triefen ja!" Gleich im Hausflur, den eine an der Wand hängende Petroleumlampe erhellte, legte der Doktor Hut und Mantel ab. „Bring mir die Pampuschen, Minna!" Und er zog auch die durchnäßten Schuhe aus. Eher aber als die Magd mit Filzschuhen, erschienen die alten Grundmanns und der jüngere Sohn Karl. Sie erstaunten über sein plötzliches Kommen, zankten, daß er nicht vorher geschrieben und fragten nach dem Be finden seiner Familie. Die kleine dicke Bäuerin freute sich wie ein Kind und führte Paul in die Stube. „So, nun wärm dich erst mal ordentlich aus!" sagte sie, indem sie einen großen Rahmtopf von der Ofenbank nahm und den Sohn, der sie um mehr als Kopflänge überragte, auf den freien Platz nieberzog. „Nein, du bist ja durch vom Regen! Das geht nicht, ich bringe dir Hosen vom Vater." Und schon war sie hinaus. „Nun, Karl, noch immer nicht Hochzeit? Wir warten schon lange auf einen richtigen Hochzeitsschmaus. Und immer vergeblich!" wandte sich Paul an den jüngeren Bruder, der, mit runden, roten Backen, ganz das Ebenbild der Mutter, vor ihm stand. Karl zog die Schultern hoch und wiegte den Kopf, und seine blauen Augen funkelten lustig. „Je länger Ihr da nach hungert, desto besser schmeckts Euch nachher!" Der Vater, der den landwirtschaftlichen Kalender und Tinte und Feder vom Tische in ein Schubfach des Glas schrankes brachte, lachte dazu. Aber Paul meinte ernsthaft, es sei doch wirklich nun Zeit zu heiraten für Karl. Über dreißig warte ein Bauer doch damit nicht. „Mutter, warum drängt Ihr nicht? Paßt auf, er verliert die Lust und läßts noch ganz!" wandte er sieh scherzend an die Mutter, Sie mit Hosen und Socken und Strumpfjacke hereinkam. „Das Hochzeiten, das kommt schon. Bloß, was nachher wird, das ist's." Das sagte sie ernst. Paul horchte auf, es flog ein Schat ten auf sein Gesicht. „Na, wir reden dann noch draus. Jetzt geh ins Stübel und zieh dich um! Derweil mach ich dir schnell was zum Essen. Wir sind schon durch." Damit verschwand sie in die Küche. (Fortsetzung folgt.)