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Der Seegerkarl Ehrhard Nierich, Neukirch Bescheiden war das alte kleine Häuschen mit seinem altersgrauen Holzwerk und den schön geschwungenen Um bindern, hinter denen jeder sofort die gemütliche Holz stube ahnte, zurückgetreten in die blumigen Wiesen und hatte den moderneren und nüchternen Steinhäusern den Vortritt an die Landstraße gelassen, wo sie heimatfremd und wesenlos sich breit machen und für ihre Neugier von den Automobilen mit Schmutz und Staub beworfen wer den. Nur das moosüberwucherte Strohdach war, nachdem es bei einem tüchtigen Sturme bald fortgeflogen wäre, durch ein blankes Schieferdach ersetzt worden, auf dem sich die Sonne gern spiegelte. Alle auf der Straße Vorbei gehenden blinzelten dann zu ihm herüber, kniffen ein Auge zu und schnitten ihm merkwürdig lächelnde Gri massen. In dem kleinen Gärtchen wucherten wohlriechende Kräuter, wie Thymian, Lavendel, Rosmarin und Minze reichlich, dazwischen flammten Rittersporn, Löwenmaul, roter Mohn und hohe Malvenfackeln. Wie ein vom Him mel gefallener Stern leuchtete auf grünem Stecken eine silberne Kugel prahlerisch über den Zaun, ließ die Leute auf dem Kopfe laufen oder zeigte den neugierigen Dorf buben riesenhafte Nasen und winzige Beine. Wie eine blaugrüne Mauer stieg in der Ferne hinter dem Häus chen der Valtenberg empor. Ich habe erzählen hören, daß Gebäude mit der Zeit etwas von ihren Inwohnern an sich nähmen untö eine Seele bekämen, und wer zu guter Stunde komme, der höre den Pulsschlag vergangener Geschlechter heimlich pochen. Trat man hier durch die Haustür, so erschrak man vor erst über das aufgeregte „Pingelingelingeling" der Glocke, die an einem Blechstreifen zappelte und sich lange nicht be ruhigen konnte. Doch dann schien in jedem der alten brau nen Balken dieses Herz des Hauses zu ticken, und man täuschte sich auch nicht; denn man war ja beim alten Uhr macher, dem „Seegerkarl". Hinter Meerzwiebeln, Aloe, Kaktus und hängendem Judenbart saß ein eisgraues Männchen am Fenster. Unzählige Feilen, Bohrer, Schrau benzieher und andere Werkzeuge lagen fein geordnet in Reih und Glied auf dem Arbeitstische. Hatte irgendwo mal eine Schwarzwälder Wanduhr das Leben satt, oder hatte ein allzu hitziger Wecker in seiner Aufregung und seinem Pflichteifer so geklingelt, daß ihm das Herz oder vielmehr die Feder im Leibe gesprungen war, oder zuckte bei einem morschen Uhreninvaliden, dessen Eingeweide gar noch aus Holzrädern bestand, der gelernte städtische Uhrmacher bedauernd und verlegen die Achseln, so ging man zum „ahln Seegerkarl", ja sogar „Regulatorsch" brachte man zu ihm, aus denen er sich aber nicht viel machte; denn das Hinken war bei dieser neumodischen Sorte wohl ein Geburtsfehler und daher nicht abzuge wöhnen. Für die andern aber, waren es Kasten-, Schür zen-, Ketten- oder Strickelseeger, die mit der „Drang!" (Drehlings aufgezogen werden mußten, hatte er ein war mes Herz, und wenn er den oft hundert Jahre alten Stomb aus dem Gehäuse blies und die wieder wie Gold funkelnden Rädchen einsetzte, dann zogen vor seinem Geiste die Generationen vorüber, denen die Uhr zu Freud und Leid geschlagen hatte. Alte längst vergangene Zeiten form ten sich zu neuem Leben und gewannen Gestalt in den zahllosen Sonnenstäubchen, die an dem Fenster vorbei tanzten. Wenn dann eine der vielen fertigen Uhren an der Wand, denen er wieder neuen Lebensmut eingeflößt hatte, zu schlagen begann, hörte er mit der Arbeit ein Weilchen auf und blickte verloren durch die Fensterschei ben in das Gärtchen, aber sein weißer Kopf lauschte schief geneigt ins Zimmer. Jetzt schlug mit tiefem Baß die greise Kastenuhr, daß es wie Kirchenglocken dröhnte, eine gute Stimme noch, trotz der achtzig Jahre; in den letzten Schlag rief ein vorlauter Kuckuck hinein, ein anderer antwortete etwas heiser aus dem Winkel, kein Wunder, wenn man mit knapper Not aus dem brennenden Bauernhause ge rettet wurde. Mit plärrendem Schlage meldete sich bald eine Schwarzwälder, die eine fröhliche Jagd auf dem Zifferblatte trug. Auch ein Sorgenkind, eine uralte Schür zenuhr mit Holzräderwerk, das mit Schnuren aufgezogen wurde und mit der Jahreszahl 1784 auf dem gebräunten Gesichte, ließ ihr silbernes Ping-ptng von einer Glasglocke ertönen. Der Seegerkarl warf ihr einen dankbaren Blick zu. So ging eine Weile die Musik Heller und tiefer, voller und dünner, zimperlicher Töne neben Kuckucks- und Wachtelruf durch die Stube. Als der letzte Schlag wie eine große Hummel durch die Stube summte, nickte der alte Mann zufrieden lächelnd vor sich hin, rückte die Brille von der Stirn wieder auf die Nase und begann von neuem zu feilen und zu putzen. Ein Stieglitz über dem Arbeits tische wurde wohl durch den Kuckuck an seine Waldheimat erinnert und pfiff ein Lied, in das der Hänfling über den Blumenstöcken freudig einfiel, und der Kanarienvogel hinter dem Arbeitsplätze vervollständigte das Trio, zu dem der alte Mann leise die Melodie eines alten Soldaten liedes summte. Dabei ging ihm die Arbeit trotz der zit ternden Hände noch einmal so gut. Aber eine Schwäche hatte der alte Mechanikus auch, er war ein Sammler. Stöberte er auf dem Boden eines Bauernhauses in Spinnweben und Gerümpel eine Uhr auf, dann band er sie in ein rotgetupftes Schnupftüchel und trug sie heim. Sorgfältig reinigte er das Räderwerk, setzte neue Zähne ein, feilte, hämmerte und schnitzte, bis die Invalidin verjüngt mit blitzendem Pendel an der Wand hing und hier ihre acht bis vierzehn Tage Probe zeit durchmachen mußte. Dann trug er sie hinauf in die „Seegerstube", das war sein Allerheiligstes. In einer klei nen Giebelkammer lagen wohl sechzig Uhren auf Tische oder Laden, sorgfältig mit Tüchern zugeöeckt, als warteten sie auf ihre Auferstehung. Da waren große Kästen, die jede Viertelstunde schlugen, andere, die acht oder gar vier zehn Tage nicht aufgezogen zu werden brauchten, Holz uhren, an denen das kleine Pendel unruhvoll vor dem Zifferblatte schwang. Uhren mit Glasglocken und Glocken spielen, mit Tages- und Monatsangaben, und andere sel tene Erzeugnisse früherer Bastlerkunst lagen Hier stumm beieinander. Buntbemalte Truhen bargen Gewichte aus Eisen, Stein, Messing, Kanonenkugeln von 1813, und der Schrank mit den steifen Blumensträußen auf den Türen enthielt die Schleudern. In diese Stube ging der Seeger karl Sonntags nach dem Mittag und hielt seine Feier stunde. Liebkosend wischte er den Staub von den Ziffer blättern rn-d deckte behutsam das buntkarierte Tuch wie der über seine Schätze. Seine Frau war auf die „ahln Seegr" nicht gut zu sprechen, und sie sah es seinem verklärten Gesichte und dem roten „Hickel" an, wenn er wieder einen Fang ge macht hatte und fing an zu „beißen": „Nee, Karle, do wirscht uns no zu Grunde richtn mit denn Gemahre und Gebambr. Hittst liebr Hulz aus'm Buusch gehüllt." „Na flenn ock ne, Ahle," sagte dann der Seegerkarl treuherzig, „das wird zn Wintr oh ne fahln." Er langte sich die „Pfockenjacke" vom Nagel, nahm seinen Krückstock; denn seit dem siebziger Kriege hatte er das Reißen, das er nebst einer Uhr von der Belagerung von Paris mitgebracht hatte, holte das „Litterwahnl" aus dem Schuppen und fuhr in den Wald nach Reisig. So hatte er seine Uhr und die Frau das Holz, und Friede tickte nach wie vor im alten Häuschen. Seitdem Karle sich aufs Uhrmacherhandwerk gelegt hatte, stand's um die beiden Leute viel besser als früher, wo der Webstuhl klapperte und das Spulrad schnurrte, dafür hatte der Seegerkarl aber auch einen großen Dünkel bekommen und wollte nur noch am „Simü" „Harch" essen,