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Tauschers wußten, was das da drüben zu bedeuten hatte, und mit Gustls hoher Meinung von der Dame Annemarie Kannebank war's gründlich aus. Was soll aus den Kindern werden, wenn sie weiterhin solche Geschichten wahrnehmen? Sie müssen uns hier in diesem Höllenoiertel verderben! sorgte sich die Mutter. Tauscher schwur sich, am anderen Morgen sofort beim Hauswirt sich zu beschweren und Frau Langer bei der Polizei anzuzeigen. Aber die gefährlichen Folgen fielen ihm ein, sie müßten ausziehen, wodurch sie sich in neue große Kosten stürzten, und welche Schwierigkeiten bot im dritten Kriegsjahr ein Wohnungswechsel! Als beim Morgengrauen die nächtlichen Gäste des Fräu leins Kannebank aufbrachen, war Tauscher mit sich einig geworden, bis zum Ende des Krieges müßten sie noch alles ertragen. Und dann klang es wieder: „Mausehaken, Einbrecher, Gesängnissitzer!" Er legte sich aufs linke, aufs rechte Ohr, er hörte es dennoch laut: „Einbrecher! Einbrecher!" * -» * Trotz der Brüthitze und des Teergeruchs saß Tauscher in seinem hölzernen Torhäuschen. Müde starrte er, die Ellenbogen breit auf dem Tische, vor sich hin. Den Bries, der neben dem Kaffeekruge lag, nahm er immer wieder einmal, las ihn und legte ihn mit einem Seufzer weg. Fritz hatte zu Mittag den Brief herausgebracht. Gertrud schrieb darin, daß es dem Großvater seit zwei Wochen schlechter gehe und daß er seit zwei Tagen gar nicht mehr aufstehen könne. Der Doktor habe ihr gesagt, sie solle es ihren Eltern berichten. „Ja ja ja, doar» woar a Noagel zun Soarge! Fir uns und fir dan ahlen Moann!" sagte er, traurig nickend. „Doas is zuvill fir ihn gewast. Doas hätt a sich ni treemen lussen, doaß sei Eenziger amol a die Herberge Sicher ei- guoartiert wierd'!" Und nun? Gustl hatte ihm den Brief doch geschickt, da mit er sofort um Urlaub bitten könne. Er schüttelte den Kopf: nein, nein, es ging nicht! Er konnte dem Vater nicht unter die Augen treten, nachdem er ihm die tiefste Schmach, das größte Herzeleid angetan. Oder doch, gerade darum, er mußte hin, ehe es zu spät war, er mußte dem Vater alles genau erzählen, wie es damals gekommen, und um Ver zeihung bitten. Er wußte, daß er sein Lebtag keine ruhige Stunde mehr haben würde, wenn er dem Vater nicht ge beichtet hätte. Aber die Mummelswalder! Sollte er sich denen zeigen, damit sie mit Fingern auf ihn wiesen: der hat eingebrochen und gesessen? Der Kopf brannte ihm vom Widerstreit der Gedanken. Er konnte sich nur unter Fremden sehen lassen; wo man ihn kannte, kannte man ihn auch als den Einbrecher. Nein, wenigstens heute wollte er noch nicht um Urlaub fragen. Vielleicht morgen. Vielleicht konnte Gustl nach Mummels- walde fahren, vielleicht... Da erschien jemand am Fenster. Der Pförtner fuhr auf. Aha, der Jean. Jean war einer der französischen Gefangenen, die in der Baumschule arbeiteten. Ein kleiner, schneidiger Mann mit blitzenden Augen, kurzem Bärtchen. Er trug eine gutsitzende, schöne französische Felduniform. Die anderen Gefangenen waren mit dem deutschen Landstürmer in einer Pflanzung. Jean, als derjenige, der sich am besten verständigen konnte und auch sonst sich am besten eingerichtet hatte, blieb am Nachmittag meistens zurück, um im Packraum zu helfen und die Post für das Kommando zu besorgen. Der Pförtner hatte das Fenster in die Höhe geschoben. „Tag! Post holen! Sie fahren mit!" sagte der Fran zose flink. „Jawohl, sofort." Tauscher ließ das Fenster herunter, kam heraus, schloß die Tür ab und wartete, bis Jean mit dem Handwagen kam. Tauscher ging neben dem Franzosen, und es sah von hinten aus, als ginge ein Greis neben seinem rüstigen Enkel. Heimzu hatten sie tüchtig zu stemmen; die Kisten, Säcke und Kartons türmten sich auf dem Wagen. „Ja ja," lachte der Franzose, „noch reich, Frankreich! Noch gut leben, oh! Nicht Polonaise stehen wie in Deutsch land! Eure Zeitung lügt!" Denn die deutsche Presse mußte die Lügen von Hungers und Kohlennot und Aufständen in den feindlichen Ländern immer und immer wieder auftischen. Die Kriegsgefangenen lachten darüber und das deutsche Volk wurde erbittert, wenn dann Italien, statt erfroren zu sein, neue starke Angriffe unternahm, wenn es durch die Gefangenen erfuhr, daß man in Frankreich erst mit einer ganz gelinden Rationierung der Lebensmittel begann. Als sie wieder einmal ausruhten, entdeckte Jean zwei Schulbuben im Schatten eines Hausflurs. Er pfiff ihnen, und sofort sprangen sie herzu. „Hier!" sagte er und griff in seine Tasche, jeder Knabe erhielt eine kleine Handvoll Feldzwiebacke, auch Tauscher. „So, nun fest! — Lassen Sie, Tauscher!" sägte Jean, der immer auf den kranken Mann Rücksicht nahm. Ein Arbeiter aus dem Packraum half dem Franzosen die Kisten abladen und in das Gebäude hinauftragen, wo die Gefangenen untergebracht waren. „Na, das is wieder was für die Herren Offiziere!" bemerkte er bitter. Da ihn Tauscher fragend ansah, offenbarte er sich weiter: „Ich habe schon manchmal einen Handwagen voll Konserven und Wein rübergefahren zu Lenkans und zu Fülles. Zu was Kriegen die Offiziere die Gelder, hm? Daß sie sich ihre Speisekammern füllen; denn sie wissen, daß noch granatige Zeiten kommen!" Jean blitzte mit den Augen. Das sollte wohl heißen: „Ja, ihr armen Deutschen, ihr laßt euch schön an der Nase herum- sühren! Eure Reichen leben schön, ihr hungert!" Tauscher und der andere verstanden es so. Dergleichen hörte man auch sonst reden. Tauscher hatte früher sein Ohr solchen Redereien nie geschenkt, er hielt sie für übertrieben und gefährlich. Seine eigenen Beobachtungen im Felde behielt er für sich, er maß ihnen keine Bedeutung bei; es war für ihn selbstverständlich, daß die Oberen allerlei Vorzüge ge nössen, er tat seine Pflicht und freute sich über die beschei denen Erfolge, ohne mit Neid auf jene zu blicken, die nun einmal von Gott an einen besseren Platz gestellt waren. Das Stadtleben änderte den einfachen Menschen, es zeigte ihm Gegensätze, reizte iyn oft, sein und seinesgleichen Los mit der Lebensführung der Wohlhabenden und Führenden zu vergleichen. Und Empfindungen meldeten sich da in ihm, die er früher nicht gekannt, vor denen ihm selber graule, die er aber nicht mehr los wurde. Wie eine unheimliche Krankheit war das, die immer weiterfraß und schließlich den ganzen Körper verseuchte. Er jühlte, daß er Proletarier war. Auch jetzt pulste sein-Blut härter und lauter, als er hörte, wie Lenkan und Fülle mit Hilse ihres Reichtums sich durch die Gefangenen versorgen ließen. (Fortsetzung folgt.)