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Erst als er am nächsten Tag in seinen neuen Dienst ging, wurde ihm wohler. Da draußen kannte ihn wenigstens nie mand. Nur der Besitzer der Baumschulen, Herr Fülle, wußte von seiner Verfehlung, doch sah er diesen kaum. Am allerliebsten hätte Tauscher in den Pflanzungen mit gearbeitet: gegraben, umgesetzt, verschnitten, gesprengt. Doch war das nun einmal nicht seines Amtes; die eine Arbeit konnte er infolge der Kriegsverletzung und der allgemeinen Körperschwäche nicht verrichten, die andere hatte er nicht gelernt. Aber er war auch so mit der Veränderung zufrieden. Hier draußen — ja, draußen, darin lag das Erlösende. Das Stadtinnere war eine Festung, aber hier standen schmucke Häuser, alle von größeren oder kleineren Gärten umgeben. Und davor lag das freie Land, in das die Baumschulen sich weit hinein ausdehnten. In der Ferne standen wie stumme schwarze Riesen die Schlote der Bergwerke auf dem Hori zonte, im Osten über dem Stadtteil, ganz nahe, zogen sich die Elbberge hin, die immer sonntäglich-feierlich aussehen und von denen her zwischen dem Krematorium und der Kuppel des Iohannesfriedhofes ein spitzer weißer Giebel herüberlachte. Auch die Beschäftigung gefiel Tauschern. In einem nied lichen Torhäuschen wartete er der Besucher und Kunden, führte sie nach den Geschäftsräumen, dem Packhaus oder zu der gewünschten Abteilung der Baumschule. Er händigte bestellte Obstposten den Abholern aus. Manchen Groschen Trinkgeld gabs. Auch konnte er sich selbst ab und zu ein paar Pfund Fallobst kaufen, welches nur alten Kunden abgelassen wurde. Er hatte sich wirklich in jeder Weise verbessert. Das wirkte mich aufseincn Gemütszustand, das klärte den Himmel wieder auf. Sonnenglanz war wieder in der engen Dachwohnung. Man wagte, einmal fröhlich zu sein, die Kinder durften den Vater wieder mit Fragen und Erzählungen eigener wich tiger Erlebnisse bestürmen. Ins weiße Haus fand sich Tauscher erst, nachdem ihn Grundmann schriftlich aufgefordert hatte. Und dann schämte er sich doppelt, denn er glaubte, man müsse es ihm als Un dankbarkeit auslegen, daß er nach seiner Freilassung sich nicht von selbst eingestellt hatte. Doch bemerkte er an Grund manns nicht das geringste Zeichen von Mißmut, wohl aber fiel ihm auf, daß der sonst so gesunde, stramme Mann in den vier Wochen sich verändert hatte und magerer aussah. Vier Jahre lassen sonst nicht so deutliche Spuren zurück. Er wußte schon, wie das zu erklären war, und es drängte ihn zu einem Wort der Abbitte und des Dankes. Nachdem der Wirt, Gottlobe und Annel ihn herzlich be grüßt hatten, griff er noch einmal nach Grundmanns Hand. „Ich verdanke dir vill, Paul! Wenn du ni gewast wärst, hätts goar schlimm im meine Leute ausgesahn!" „Laß gut sein, Hermann! Vergangenes rühren wir nicht auf. Komm, setz dich in deine Ecke!" Grundmann wollte nicht in den alten Fehler der Heimat schwärmerei verfallen und auch in diesem Sinne Vergange nes nicht aufrühren. Das war aber so gegen seine Gewohn heit, daß er sich eigentlich mehr mit seinem munteren Töch terchen als mit dem Gaste unterhielt. Gottlobe war körperlich stärker und etwas unbeholfener geworden. Bei der Arbeit an der kleinen Wäsche und in stillen Stunden, wenn Annel im Garten spielte und sie nicht störte, gehörten ihre Gedanken dem Wesen, dessen Leben sie unter ihrem Herzen mit inniger Freude spürte. Sie hatte das Träumen gelernt und war ruhiger dabei geworden. Doch fühlte sie sich geistig beweglicher als ihr Mann. Sie kam ihm zu Hilfe. Nach Tauschers Arbeit bei Fülle erkundigte sie sich, nach einigen Personen, die sie, als sie in dieser Vorstadt wohnten, in den Baumschulen kennen gelernt hatte, nach allem, was seine neue bessere Stellung betraf. Das brachte Grundmann darauf, den Landsmann noch einmal durch den Garten, insbesondere zu den Obstbäumchen zu führen. Diese hatten ihm rechte Freude bereitet. Er wußte von jedem die genaue Zahl der Früchte. Tauscher konnte ihm schon manchen Wink für die Pflege der Bäumchen geben. Dann nahmen sie im Garten ein einfaches Abendbrot. Die Spatzen waren zu Gaste. Finkengelächter klang runoum. Heiter erschien die Welt und schön. Tauschers Augen leuch teten aus dem blassen Gesicht. Welch ein gesegnetes Fleckchen Erde! Der Fluß da unten, den Zillen, Dampfer, Fähren, badende Kinder belebten und über dem die Möoen ihre Gleit- 'flüge vorfllhrten! Die Stadt da unten, deren Kuppeln und Türme sich gegen den erglühenden Westhimmel wirkungs voll abhoben! Der Herakles, der auf dem monumentalen Rathausturme über die Stadt wachte, erglänzte. „Wunderbar schön!" sagte Tauscher. Alle drei fügten sie bei sich ein „Und doch!" hinzu. * * * Frau Langer hatte Ersatz für den verschwundenen edlen Eduard gefunden. „Annemarie Kannebänk" lautete die unendlich zierliche, von einem Vergißmeinnichtkranze eingerahmte Aufschrift der an der Tür befestigten Karte. Als Fritz und Gustav eines Abends vom Spiel aus der Gasse heraufkamen, wurden sie auf der Treppe von Anne marie Kannebank eingeholt. Sie drückten sich scheu an die Wand, denn es war eine gar vornehme Person, von hohem, schlanken Wuchs, mit milchweißen Händen, an denen Ringe funkelten, in duftige Seide gekleidet, in weißen, zierlichen Schuhen, mit hellblauem Strohhut von neuester unbestimm barer Form. Fritzen fiel ein, daß seine Mutter gesagt hatte: „Suavür- nahmes Weibsen, doaß die in a siches Haus zieht!" Und er empfand jetzt selbst, daß so eine Dame nicht hierher passe. Staunend, mit ehrfurchtsvoller Scheu sah er ihr nach. Da kehrte sie sich auf einmal um. „Wohnt ihr in diesem Haus?" fragte sie ganz schnell und fein und singend. Fritzen schlug das Herz. Denn jetzt erst sah er ihre Augen, ihre merkwürdig großen Augen in großen Höhlen, über denen die schwarzen Brauenbogen standen. Solche Augen hatte er nur auf den Bildern vor den Kinos gesehen, und sie kamen ihm unheimlich vor, obgleich die Dame so freundlich lächelte. Er verschluckte sich, als er ein halblautes „Ja" antwortete. „Ach, du liebster Kleiner, tust mir gewiß einen Gefallen, ja? Du weißt doch da schräg drüben das Restaurant Stadt Venedig?" Fritz kannte die kleine, schmutzige Kneipe, hinter deren Fenster verräucherte künstliche Blumen hingen, die italie nische Pracht den Vorübergehenden ahnen ließen. „Willst du mal hingehen und einen Brief abgeben? Bist mein Liebling!" Der Junge wußte nicht, wie ihm geschah, als er so zart und freundlich, wie ers nie vernommen, angeredet wurde. Er vergaß, daß er sich mit dem Sohne des Wirtes von „Stadt Venedig" verfeindet hatte, und daß der Gang schließlich ge fährlich war. Er nickte. „Ein Augenblickchen!" Sie huschte vollends hinauf und kehrte sogleich mit einem rosa Briefchen zurück. (Fortsetzung folgt.)