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252 Gberlausitzsr Helmatzeitung -Nr. 22 Nach Stunden, die ihm Ewigkeit schienen, stand er vor der kleinen, vom Unglück schwer betroffenen Frau. Wie gut, daß er gekommen! Denn sie wußte in ihrer Not nicht aus, noch ein. Sie kam ihm zehn Jahre älter vor. an den Schläfen schimmerte blaues Geäder durch die Haut, ihreAnqen waren tiefer gesunken, die Knochen traten härter aus dem Gesicht heraus. „Wie sehr gleicht sie seht ihrem Manne!" mußte Grundmann denken, und die Wahrnehmung tat ihm weh. Gustl war nicht fähig, ihm den Hergang zu erzählen, das Gedächtnis ließ sie im Stich. Grundmann quälte sie nicht, er würde vom Kriminalbeamten ja alles erfahren. Er riet ihr, daheim die alte Ordnung und den Kindern gegenüber die Ruhe zu bewahren, auf keinen Fall dürfe sie, wie sie es an den letzten Tagen getan, die Bereitung warmen Mittag essens unterlassen. Damit drückte er ihr einen Schein in die Hand. „So, nun ist Ihr erster Weg zum Kaufmann; sorgen Sie dafür, daß Sie mit den beiden Jungen sich erholen! Im übrigen verlassen Sie sich darauf, daß Ihnen geholfen wird, auch wenn Hermann nicht freigesprochen werden sollte!" Dies sprach er in einem Ton, in dem sich Güte und Strenge paarten, wie ein Arzt einem ungeduldigen und unfolgsamen Kranken gegenüber auftreten muß. Er fügte sogar noch die Drohung hinzu, daß er die Kinder fragen werde, was sie von diesem Tage ab gegessen hätten. Denn was sollte werden, wenn die Frau zusammenbrach oder dem Zustande gänz licher Apathie verfiel? Gustl Tauscher folgte. Dr. Grundmann begab sich zur Kriminalbehörde. Von dort aus meldete er sich telephonisch bei einem bekannten, tüchtigen Rechtsanwalt an, den er Tauschern durch dessen Frau zum Verteidiger empfohlen hatte. Am nächsten Morgen wurde er von dem Rechtsanwalt erwartet. „Gewiß, der Fall liegt klar und bietet keinerlei Schwie rigkeiten. Daß der Mann sich nicht bereichern wollte, zeigt ja die Tatsache, daß er nur hundert Mark wegnahm, die nur einen Bruchteil des Inhalts der Kassette bildeten. Daß er den entwendeten Betrag zur Reise nach seiner Heimat verwenden wollte, ist nicht zu bezweifeln, da er ja drei Tage vorher bei seinem Bankgeschäft bereits um Urlaub nach gesucht und dabei als Drinqlichkeitsgrund die auf einer von ihm vorqezeigten Karte gemeldete Krankheit seines alten Vaters angegeben hatte. An Sie konnte er sich nicht wenden, es wäre wenigstens unbequem gewesen und hätte einen Zeit verlust gekostet, so griff er zur Selbsthilfe. Er handelte aus Heimatnot. Dieser Erkenntnis wird sich kein Richter ent ziehen, da dürfen Sie beruhigt sein. Aber Sie haben keinen Grund, von einer Mitschuld Ihrerseits zu sprechen, Herr Doktor. Wenn Sie den Mann zu sich einluden und dann mitsammen tzeimaterinnerungen nachhingen, so wollten Sie ihm ja zu Hilfe kommen. Und Sie haben ja tatsächlich da durch, daß Sie ihm eine Zuflucht boten, sein Exil bis dahin erträglich gemacht!" „Bis dahin!" wiederholte Grundmann. Bitterer Hohn sprach aus seinem Ton und Blick, Hohn auf die Erfüllung seiner Freundespflichten. „Wenn ich wußte, daß er meiner bedurfte, so mutzte ich ihm meine Ferien opfern und durfte ihn nicht der Gefahr überlassen!" „Das will ich nicht sagen. Im Gegenteil, nach einer halb jährigen Probezeit konnten Sie doch einmal den Versuch machen, ihn für ein paar Wochen sich selbst zu überlassen." „Nicht, nachdem ich sein Heimweh durch Träumereien und fortgesetztes Zurückblicken nach dem verlorenen Lande genährt, nachdem ich Öl ins Feuer gegossen hatte, sodaß es nachher aufloderte und von ihm nicht mehr beherrscht werden konnte! Also das Gegenteil von dem, was ich wollte, habe ich erreicht! Der Rechtsanwalt nickte. „Die Menschenseele ist nicht so einfach und klar eingerichtet wie ein chemischer Stoff, und es kann niemand bestimmt voraussagen, wie sie auf eine Einwirkung reagieren wird. — Mit mir hat mans anders gemacht. Als ich von Leipzig nach St. Afra ging, schärfte mir mein Vater ein, nur in den ganz dringlichen Angelegen heiten nach Hause zu schreiben, ebenso beschränkten sich die Eltern auf die notwendigsten Mitteilungen. Als ich mich mal erkundigte, was unser Spitz machte, an dem ich hing, wie nur Kinder an so einem Tier hängen können, schrieb der Vater, das ginge mich nichts mehr an, ich sei in St. Afra daheim. So übte er es das ganze erste Jahr, die Mutter be fand sich mit ihm in Übereinstimmung, sodaß ich tatsächlich nur in den Ferien wieder dem Elternhaus gehörte. Es war hart, besonders nach den ersten Ferien packte mich«, aber ich mußte mit dem Heimweh fertig werden und wurde es auch. Und später hat mich dies peinliche und peinigende Gefühl nie mehr heimgesucht. Ja also, das war ein scharfes Mittel, bei mir hatte es den gewünschten Erfolg. Wer weiß ...." „Nein!" fiel ihm Dr. Grundmann bestimmt ins Wort, „Tauschern würde diese Radikalkur übel bekommen sein, dazu war er zu weich, nicht widerstandsfähig genug. Außer dem lag Ihr Fall doch einfacher. Sie kamen als Städter wieder in eine Stadt, waren nur räumlich von daheim ge trennt und konnten immer nach gewissen Fristen ins Eltern haus zurückkehren, Tauscher aber sah sich in eine gänzlich fremde Welt versetzt, unter fremde Menschen, in ganz andere Lebensbcdingungen. Seine Verpflanzung geschah auch sehr spät, als er schon nicht mehr das Anpassungsvermögen der Jugend besaß. Doch glaube ich nicht einmal, daß er in seiner Jugend eine solche Verpflanzung vertragen hätte. Dörfler unseres Schlages — denn cs g ht mir, offen gestanden, nicht anders als dem armen Tauscher — können nie in der Stadt welt einwurzeln. Dies ist mir nun klar, nachdem ich einen so braven, gutwilligen Menschen hier habe zuschanden werden sehen! Die Stadt ist uns feind! Und sie ist allem Schlichten, Geraden, Natürlichen feind! Entartung ist sie, der Scheiter haufen, auf dem alle gesunde Überlieferung und die Volks kraft verbrannt werden. Merkwürdig nur, wie die Menschen von ihrem fried'ichen Lande, das sie mütterlich nährt und schützt, nach diesen Städten sich drängen! Wie die Abend mücken nach der Flamme, an der sie sich die Flügel ver sengen und unter der dann ihre kleinen Leichen wie hin gesät liegen!" Der Rechtsanwalt hatte, das Kinn in die Hand gestützt, zugehört und anfangs durch mehrfaches leichtes Zun'cken seine Zustimmung bezeugt Bei den letzten Worten sah er aber auf. Der Sprecher war ins Feuer geraten, war aus einem Niedergedrückten und um die Rettung seines Freundes Bittenden zu einem scharfen Ankläger einer hoch bedeut samen Kulturerscheinung geworden. Er hatte sich aufgerich tet, und seine an sich große Gestalt war noch um etwas ge wachsen. Mit glühendem Zorn eiferte er wie ein Amos. „Herr Doktor," entgegnete ihm der Rechtsanwalt ruhig, „gerade Sie als Bibliothekar werden doch auch bestimmte Vorzüge der Stadt anerkennen, wo sich wirtschaftliches und geistiges Leben konzentriert und hoch empor entwickelt." „Aber mehr, als materiell geschaffen wird, wird an ideellen Werten zerstört. Was durch die Konzentration der Industrie, des Handels und des Verkehrs erspart und gewonnen wird, kann in bestimmten Zahlen ausgedrückt werden, und diese Zahlen flößen uns Respekt ein." ' (Fortsetzung folgt.)