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Als er nach der Tür zurückging, stieß er unwillkürlich an Gustls Arm. Das führte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. „Waas willst du?" fragte sie. „Ich muß — ich ward' a bissel zeitiger giehn. A bissel a die Luft. Ich muß Luft hoan. Hier halt' ich's ni mieh aus." „'s macht noaß. Aber, 's wird dir guttun!" Im Stehen trank er noch eine Tasse Kaffee und aß eine Schnitte Marmeladenbrot. Dann ging er. Als er eben auf die Treppe hinaustrat, rief ihn Gustl mit gedämpfter Stimme — denn die Jungen schliefen noch — und brachte ihm das in Zeitungspapier gewickelte Frühstück nach, das er vergessen hatte. Tauscher trug den blauen Turneranzug, der ihn umflat terte wie der lose Mantel den Knochenmann, und auf welchem sich alle Ecken und Buckel des Skeletts durch schäbige, Helle Flecken abzeichneten. Mit einem Schirm hatte er sich natür lich nicht versehen. Auf seinem Strohhute, der von der Glut der südlichen Sonne versengt schien, zerstoben die großen Tropfen, die bei derWindstilleruhig.aberschwerniederfielen. Je nachdem er den Kopf neigte, lief vorn oder hinten das Wasser aus den Rillen des groben Geflechts. Dienstboten, Briefträger, Soldaten und Kinder flitzten über die Straße und drängten sich durch die unter schützen den Schirmen gemächlich Dahinwandelnden. Tauscherschritt langsam, blieb sogar hier und da vor einem Schaufenster oder an einer Haltestelle der Straßenbahn stehen und ergötzte sich an dem Drängen der Wasserscheuen nach dem trockenen, sicheren Wagen. Dabei triefte er vor Nüsse, an Armen, Schul tern und Knien klitschten die Kleider an. Aber was wollte er tun? Er hatte noch über eine Stunde Zeit. Ziellos schlen derte er durch die Straßen. Schließlich kam er am Bankhaus vorbei. Fenster und Haupttür waren noch durch die Rolläden geschlossen. An der einen Veite des Hauses war ein großes Tor, die Einfahrt zu einem weiten Hofe, in dessen einem Winkel leere Fässer und Kisten aufgetürmt standen und der im übrigen von Tafel- und geschlossenen Wagen ausgefüllt wurde. Diese trugen alle das Firmenschild: „I.Linstig, Seifenersatz." Gegenüber der Einfahrt stand an der schmutziggrauen Mauer in großen weißen Buchstaben das Wort „Comptoir", darunter ein nach rechts zeigender Pfeil. Es war schon lebendig auf dem Hofe. Man belud Wagen, ein Fuhrknecht schirrte ein Paar klapperdürre Gäulean. Tauscher trat unter die Einfahrt. Von hier führte auch eine Tür ins Bankgeschäft, die vom Personal benutzt wurde. Er klinkte, sie war verschlossen. Er wußte das; denn der Haus mann öffnete, seiner Instruktion gemäß, pünktlich eine Viertel stunde vor acht. Hier im Trocknen hatte er warten können. Er sah aber nur eine Weile dem Treiben auf dem Hofe zu und spannte, was die Arbeiter unter sich und mit dem Kutscher sprachen. Dann ging er wieder hinaus. Aber wie magnetisch von dem Platz angezogen, lief er nur immer auf den nächsten Gassen um den Häuserblock herum. Als Tauscher sich wieder einmal der Einfahrt näherte, fuhr gerade das Geschirr von Liustig heraus, aber in seiner Gangrichtung weiter. Er verfolgte es genau, seine Augen haf teten auf dem Kutscher, ob der sich etwa einmal umsehen würde. Doch der saß mit seinem als Schutz gegen den an haltenden Regen umgenommenen Sack steif auf dem Bocke. Da fiel Tauschern ein, daß er noch die Zigarre einstecken habe, die ihm gestern ein Herr in der Bank geschenkt hatte. Er schritt rascher aus, bis er das Geschirr einholte, grüßte zum Kutscher hinauf und bat ihn um Feuer. Der Kutscher hatte sofort angehalten, erwiderte den Gruß kurz und meinte, er hätte kein Feuer. „So, so — nu ja, schoad't nirfcht," sagte Tauscher verlegen und mehr zu sich selbst. „Hm?" machte der Fuhrknecht mürrisch. „Ich meent' ok, 's schoad't nirscht." Dabei blieb Tauscher aber noch am Geschirr stehen, als könne er nicht so ohne weiteres von einem ihm bekannten Menschen weglaufen öder als habe er noch etwas Besonderes auf dem Herzen. Seine Zigarrewiederin die Westentasche schiebend, fragte er: „Schon wieder uff die Boahn?" Der Fuhrknecht, dem der Regen gerade ins Gesicht traf, schien aber keine Lust zu weitererUnterhaltung zu verspüren, knurrte nur ein kurzes „Freilich!" und zog die Zügel an. Tauscher schüttelte mit blödem Lächeln den Kopf. Uber sich selbst: was trieb ihn eigentlich, denFuhrknechtanzureden? Albernheit, bei diesem Regen rauchen zu wollen! Überhaupt war es doch gar nicht seine Art, rauchend in den Dienst zu kommen. Und über den Fuhrknecht: hatte der Kerl denn wirklich nichts zu erzählen? Ob man noch nichts bemerkt hatte? Oder — ja, so war's gewiß: man hatte nichts ver lauten lassen, forschte aber natürlich sofort im stillen. Bei diesem Gedanken leuchteten Tauschers Augen eigentümlich aus. Eine gewisse Verwegenheit kam in iHv, beinahe wünschte er, man möchte ihn selbst ausforschen, recht gefährlich müßt' es werden. Merkwürdig, an die Heimreise dachte er jetztgar nicht, ganz andere, ihm bisher unbekannte Gedanken und Gefühle beherrschten ihn. Bis auf die Haut durchnäßt, kam er schließlich im Bank haus an. * 4- Fritz war zur Schule gegangen. Gustl zog den kleinen Gustav an, eilte mit ihm zur Ausgabe öer Lebensmittel^ marken, dann zu einem Geschäft, wo siesich der langen Polo naise anschloß, um nach bald zwei Stunden 250 Gramm ranzige Butter für ihre vielköpfige Familie zu erhalten. Sie war froh, daß sie gleich am Morgen viel zu besorgen hatte. Darüber vergaß sie etwas ihr Elend. Selbst bei dem Warten vor dem Geschäft gab's mancherlei Zerstreuung. Leute, denen der Sinn für Ordnung mangelte und die sich vordrängten, weil sie glaubten, nur ihre Zeit sei teuer, andere aber seien jedenfalls glücklich, sich ein paar Stunden auf der Straße im schönen, erquickenden Regen aufhalten zu können, diese Leute mußten vom Polizisten an den richtigen Platz, nämlich an den Schwanz der Riesenschlange, gebracht werden. Elefanten, Türken im Genick, zogen die mit Tabak beladenen Wagen vorüber. Nicht weit davon stürzte ein Gaul vor Entkräftung und blieb wie tot liegen, bis die Feuerwehr heraneilte und ihn aufhob. Dann wieder marschierte ein Trupp Feldgrauer vorbei. Gustav kam aus dem Staunen nicht heraus und auch seiner Mutter Sinne waren voll beschäftigt. Als sie aber zurückkamen und ins Haus traten, legte sich's beiden wie ein schwerer enger Ring um die Brust: das Elend der Heimatlosen. Eben nahm Gustl die Flechtruten hervor, da klingelte es. Sie ging und öffnete. Ein fremder Herr war's, ein großer, starker Mann mit freundlichem Gesicht, der sich als Kriminalbeamter vorstellte und seine Marke vsrzeigte. Gustl war das Blut aus dem Gesicht gewichen. Sie hatte etwas wie Kriminalbeamter verstanden, war aber nicht fähig nachzudenken, was ein solcher bei ihr wolle. Die Marke sah sie nicht: denn vor ihren Augen jagten Wolken durch einander.