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Die Frau von unten erschien durchaus nicht feinneroig und zartfühlend, und Tauschers Klopfen konnte sie nicht in dem Maße gestört und erregt haben, wie sie vorgab. Aber ihr Auftreten war nicht schwer zu deuten: sie war für die feindliche Liga der Frau Langer und Frau Martinovsky gewonnen worden. So wurde im Hause ein heimlicher und für Tauschers unheimlicher Krieg geführt. Die Dörfler sahen sich in einer Großstadt ihres Vaterlandes verfolgt, wie wenn sie in frem dem Lande unter feindlicher Bevölkerung sich befänden, verloren, schuh- und rechtslos. Es gab zwar ein Recht, aber nur für den, der sich hier auskannte, der selbstsicher auftreten konnte und durch Stellung und gute Verhältnisse eine ge wisse Macht besaß. Tauschers aber waren arm, ungeschickt und unerfahren; was wollten sie tun? Was Gustl damals zu ihrem Manne gesagt hatte: „Dohier senn mir verluren, dohier missen mir uns volles gesoallen lussen," das sah er jetzt selbst ein. Sein Zorn verlöschte. Er hatte einen flam menden Protest gegen die Belästigungen und geheimen Machenschaften der Hausgenossen an den Wirt senden wollen, das ließ er nun bleiben; er konnte ja vielleicht den mäch tigen Mann reizen. Und das mußte er um Gottes Willen vermeiden, denn er würde ja am nächsten Vierteljahrswechsel um Gestundung der Miete bitten, und die würde ihm dann natürlich nicht gewährt werden, wenn er mit solch gefähr lichem Briefe dem Wirte zu nahe träte. Wieder vermahnte er seine Familie, niemandem Anlaß zu Beschwerden zu geben, lieber still ein Unrecht zu erleiden; denn von der Gnade des Wirtes seien sie jetzt abhängig, da das Geld, was sie im Frühjahr aus der Mietkasse genommen hätten, nicht mehr habe gutgemacht werden können. Aus Mummelswolde traf eine Karte ein: „Lieber Her mann und Familie! Ich freue mich so sehr, daß die Gertrud Herkommen wird und ich kann eins von Euch Wiedersehen. Denn es geht immer noch nicht gut. Zum Arbeiten langt der Atem nicht, und ich muß mich sehr inachtnehmen, sonst wirft's mich gleich hin. Jetzt an den warmen Tagen sitze ich oft auf dem Bänkel unter der Wand. Die Muskateller birnen haben dies Jahr viel angesetzt, und auch viele Pfläu- mel sind dran. Da kann Gertrud tücht-g essen und auch welche mitnehmen. Ich muß auch die geschipperte Henne schlachten lassen, sie lahmt sehr, es muß ihr was aufs Bein gefallen sein. Der letzte Sarg, den ich machte, warfürKanelts Ernstine, was Deine Betschwester ist, die hat der Schlag gerührt, wie sie's von ihrem Manne gekriegt hat, daß er gefallen ist. Das kleine Mädel haben Singers genommen. Das ist schön von Grundmanns, daß sie die Gertrud mit bringen wollen. In der Hoffnung, daß Ihr alle gesund seid, grüßt Euch herzlich Euer Vater." Diese Zeilen machten alle ungeduldig, nicht nur Gertrud. Denn sie fühlten, ihre Gegenwart würde dem alten Groß vater wieder aushelfen. Nur acht Tage währte es noch bis zur Reise. Die vollen acht Tage wurde gepackt. In der Stube stand aus dem Tische ein mittelgroßer Karton, dahinein legte Gertrud jeden Abend ein reisefert g gewordenes Stück: ein paar Röckchen, ein paar Schürzen, für Sonntags eine und eine zur A-beit, ein paar Blusen, dann den Schaul. DerSchaul war breit und lang genug geworden, freilich hatte das Mädchen Mühe genug damit gehabt, die graue Wolle hatte nicht ausgereicht, so hatte sie an jedem Ende noch einen schwarzen vtreifen angestrickt. Nun sollte nur noch eins dazu kommen: die Abmeldung von der Lebensmittel versorgung, damit das Mädchen dann in Mummelswalde neue Marken zum Bezug des karg bemessenen täglichen Brotes erhielte. Nur mit diesem Reisepaß konnte man sich getrost auf den Weg machen. Nur mit diesem Reisepaß kam Deutschland durch die schweren fünf Jahre. Den Kinderrechen brachte Tauscher eines Abends ins weiße Haus, damit Grundmanns ihn mit dem Reisegepäck fortschicken konnten. Annele spielte gerade auf ihrem Rasenplatze. Als sie den Ankömmling bemerkte, sprang sie herzu und öffnete die Gartentür. „Guten Tag, Herr Tauscher! Der Vater und die Mutter sind gerade unten. — Aber was bringen Sie denn da?" „Einen Rechen. Siehst du?" Er machte mit dem Rechen die Bewegung des Heuwendens. „Ja! Ein feiner Rechen! Borgen Sie ihn mir einmal, bitte!" Eie probierte ihn. „Na, das bringst du ja schon ganz gut, Annel! Wie eine richtige Bäuerin!" sagte Tauscher. „Das hab ich bei der Großmutter gelernt. Aber die hat nur so große Rechen. Mit dem da gehts fein, der paßt ge rade für mich! Nicht wahr?" Sie zeigte es ihm. „Ja, das stimmt. Möchtest du so einen haben?" „Ei ja, gleich. Den würd ich gleich init nach Mummels walde nehmen." „Schön, Annel, du kannst dir'n behalten." Da sah sie ihn schnell an. „Ja?" „Freilich, dec ist für dich." „Ja? Haben Sie ihn für mich mitgebracht? Haben Sie mir den geben wollen? Das ist fein! Kommen Sie, wir zeigen ihn gleich mal!" Sie nahm den Rechen über die schmale Achsel und sprang voraus, daß ihr weißes Röckchen und die blonden Haar strähne flogen. Tauscher schritt mit schmunzelndem Gesicht hinterdrein c wie fein kalte ers mit dem Geschenk getroffen! Es wurde ein gemütlicher Abend. Zunächst verweilten sie im Garten. Dr. Grundmann, in Hemdärmeln und barhäuptig, hatte noch zu tun. Er grub einige Zimmerpflanzen draußen ein, damit sie auch während der Abwesenheit ihrer Pfleger Licht, Luft und Wasser er hielten. Dann band er ein paar an der südlichen weißen Giebelseite stehende Birnbäumchen an die Spaliere. Tauscher war ihm behilflich. Frau Gottlobe erntete die letzten Erd beeren, die am Hange vortrefflich geraten waren. Annele aber rechte mit ihrem neuen Rechen, was sich rechen ließ: auf dem'Sandwege die Steinchen, aus dem Rasen Gräser, auf einem abgeernteten und noch nicht wieder besteckten Salatbeete den Boden. Nach dem Abendbrote, das sie auch im Garten einnahmen unterm Gezwitscher der Vögel, begaben sie sich bald in die Bauernstube, Annele aber ins Bett, wo sie im Traum mit Großmutter, Tante und Mägden das Heu machte. Die beiden Männer saßen auf der Lehnbank am Tisch und sprachen von den Ereignissen des Tages. Grundmanns Bruder hatte geschrieben, daß er an heftigen Kämpfen in den Pripjet-Sümpfen teilgenommen habe und leichtver wundet worden sei; er befinde sich im Lazarett und hoffe, nach der Heimat befördert zu werden. Grundmann las Stücke aus dem Briefe vor. Knapp und sachlich waren Erlebnisse berichtet, trocken sogar; der Schreiber war ein Wirklichkeitsmensch, ein derber Bauer und an die zwei Jahre Kriegsmann. Und dennoch: um die schlichten und eckigen Worte webte eine ganz zarte Melodie. (Fortsetzung folgt.)