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eben von der Stadt Schluckenau ausgelöst worden war. Dieses Telegramm war aber von der österreichischenRegierung angehalten und unterdrückt worden. Die Bittsteller kamen nun, daß wir es publik machen möchten. Bei uns freilich war das nicht weniger schwierig als drüben. Bei der Strenge der Zensur, die damals waltete, war es kaum möglich, das Schreiben irgendwo laut werden zu lassen. Es ist mir schließlich gelungen, es in der „Bos- sischen Zeitung" zu veröffentlichen, doch sollte das Vorgehen der Stadt Schluckenau noch ein Nachspiel haben. Genau zwei Monate später, am 5. Juni, ging beim Stadtrat in Schluckenau folgendes Schreiben vom k. k. Ministerium des Innern ein: „Laut einer, dem k. k. Ministerium des Innern zugekom- menen Mitteilung der Ministerialkommission im k. u. k. Kriegs ministerium wurde ein am 4. April 1918 vom Stadtrat in Schluckenau beim Postamt in Schluckenau unter Nr. 68 auf gegebenes, an Se. Majestät Kaiser Wilhelm in Berlin adres siertes Telegramm nachstehenden Wortlautes inhibiert: (folgt Wortlaut desTelegramms). Uber Antrag des k. k. Ministeriums des Innern vom 15. April 1918 8231 N.5. und des k. k. Statt haltereipräsidiums in Prag vom 24. April 1918 23. 12.807 wird der Stadtrat zu Schluckenau hiermit aufgefordert, wegen dieses unzulässigen Vorgehens binnen acht Tagen anher sich zu rechtfertigen und gleichzeitig zu berichten, über wessen Antrag dieses Telegramm beschlossen und abgesandt wurde. Ferner ist ein diesbezüglicher Auszug aus dem Sitzungs-Protokoll des Stadtrates in Schluckenau über jene Stadtratssitzung, in wel cher die Absendung obiaen Telegramms beschlossen wurde, dem Bericht anzuschließen. Der k.k. Amtsleiter: Dr. Possig m.p." Wie das Disziplinarverfahren, welches somit das Ministerium gegen den Stadtrat angestrengt hatte, ausgelaufen ist, weiß ich nicht. Jedenfalls sahen die Stadträte dem Verfahren, wie sie mit teilten, in dem Bewußtsein entgegen, alle gesetzmäßigen Schritte unternommen zu haben, um Abhilfe zu schaffen. Sie erklärten — und das ist das Beachtliche dabei — daß kein eigentlicher Mangel an Nahrungsmitteln herrsche, sondern daß cs nur au hinlänglicher Organisation fehle. Der Mangel an gerechter Organisation, das war die Ursache der Not in den böhmischen Grenzorten. Während nämlich in den deutschen Gemeinden bitterstes Elend herrschte, lebte man in den tschechischen Orten im Überfluß. Es gab damals auch Deutsch-Österreicher, die, anstatt über die Grenze zu uns zu kommen, bei den Tschechen ihres Vaterlandes an die Türen klopf ten. Gewiß, man half den armen Deutschen, aber wie! Er konnte alles bekommen, was er an Nahrungsmitteln brauchte, aber man beutelte ihn dabei gründlich ans. Während wir unserm böhmischen Bruder gern eine Hocke Kartoffehi mit auf den Weg gaben, wenn wir nur irgend konnten, nahm ihm der Tscheche Kilo für Kilo sechs bis acht Kronen ab. Ähnlich stand es mit anderen Lebens mitteln. Und wenn der Deutsche kein Geld hatte, mußte er das Beste von seinem Besitz dafür hergeben. Es sind um jene Zeit Unmengen von Wäsche, Kleidungsstücken, Einrichtunqsgegen- ständen und dergleichen, die hier oft vom Vater und Großvater her in alten Truhen aufbewahrt und hochgehalten worden waren, nach Tschechien gewandert, wo sie mit einem Pappenstiel angerech net und mitHohnlächeln angenommen wurden. Es gab auch eine Zeit, wo die Tschechen Nahrungsmittel gegen Schußwaffen ab gaben, und das war eine ernste Zeit, auch für uns diesseits der Grenze, denn in jenen Tagen sprach man lebhaft und allen Ernstes von einer Besetzung der Lausitz durch die Tschechen. Kurzum, in Tschechien gab es Unmengen von Lebensmitteln. Während in Deutschböhmen den Landwirten durch rücksichtsloseste Requisitio nen alles weggenommen wurde, waren die Tschechen in der Lage, täglich mehrere Waggons zu Wucherpreisen ganz öffentlich unter de» Augen abzugeben. Heute liegen die Verhältnisse nicht bester, vielleicht noch übler. Doch davon später! Um die Wende Oktober-November des Entscheidungsjahres 1918 war es. Der Postmeister des Grenzortes Warnsdorf sitzt im Amtsraum ' und erwartet die deutsche Abcndpost. Sie läßt heute auf sich warten. Der Zug muß außergewöhnlich große Verspätung haben! Er sieht zum Fenster hinaus. Weiber und Kinder mit Säcken und Wagen drängen sich um einen Eisenbahnwagen nach Kohlen. Draußen hebt es zu dunkeln an. „Der Bahnverkehr von Sachsen nach Böh men ist eingestellt!" Die Postgehilfen sind mit leeren Wagen und leeren Säcken zurückgekehrt. Der Postmeister springt auf: „Was heißt eingestellt? Vorübergehend? Wie lange? Was ist vorge fallen?" Sie missen keinen anderen Bescheid als den eben bekun deten. Draußen wird Lärmen laut, die Weiber und Kinder schelten. Mit leeren Wagen und leeren Säcken müssen auch sie heimkehren. Die sächsische Eisenbahnverwaltung holt das gesamte Eisenbahn material hinüber nach den sächsischen Grenzörten: alle Wagen, gleichgültig ob beladen, leer oder halbleer. Die Arbeiter müssen die Schaufeln weglegen, weil man ihnen die Wagen unter den Händen wegfährt. Das geht alles Hals über Kopf. Die unbegreif liche Hast, mit der die Dinge sich so wenden, erregt alle Gemüter. Was ist geschehen? Was wird kommen? Niemand weiß etwas, nicht die Militärstation, nicht die Bahnverwaltung, noch die Bürgermeisterei. Alarmierende Gerüchte laufen durch den Ort. Jeder glaubt sie und glaubt sie doch nicht. Die Augusttage von 1914 scheinen wiedcrkehren zu wollen, freilich in ganz anderem Gewände. Der Telegraph beginnt zu spielen. Hastig eilt der Post meister zum Apparat. Blaue Striche reihen sich auf weißem Strei fen zu langer Kette — harmlos aussehende Striche und Punkte. Der Alte zieht die Brauen hoch. — Das Zirkulartelegramm der heute proklamierten tschecho-slowakischen Regierung! Striche und Punkte in großer Zahl! ., das Amt zu über ¬ geben!" Mit raschem Griff stellt der Postmeister den Apparat ab, noch ehe er mit seinen Zeichen zu Ende. „Übergeben? Nur heute nicht mehr!" Und ein zweites Bild vom gleichen Tage! Der Morqenzug nach Böhmen hinein ist gestopft voll. In den Abteilen stehen und sitzen die Leute dicht beisammen und besprechen erreat die politischen Fragen des Tages. Hier an der Grenze haben die Ereignisse von jenseits der Pfähle höheres Interesse als an- derswo im Reiche. Man verfolgt sie mit höchster Spannung und verknüpft sie mit dem eigenen Schicksal und dem der heimischen Scholle. Österreicher sind darunter. Sie kehren von der Front in die Heimat zurück. „Auf unbestimmte Zeit beurlaubt", steht in ihren Pässen, „entlassen" sagen sie. Am Fenster lehnt ein alter Landstürmer, einförmig und stumpf bläst er Wolken aus seiner Pfeife und sieht teilnahmslos in den Tag, der sich draußen aus dem Nebel schält. Deutsche Feldgraue mit Stahlhelm und Tor nister reisen zur Front. Neben mir steht ein österreichischer Kor poral, Mitte der Dreißiger. Er berichtet von seiner Reise. Je näher er der Heimat kommt, desto trüber wird sein Sinn. Rumburg ist sein Ziel, von dort war er zum Kriege fortgegangen. Ob er froh sei, daß er nun endlich heim könne, fragte man ihn. „Ja und nein," gibt er zur Antwort. „Wie wirds z' Haus ansschaun?" Er greift nach seiner Feld mütze und entfernt die Kokarde. „Die dürfen s' nit schauen, d' Tschechen," wendet er sich zum Kameraden am Fenster, „hernach nehmen s' uns mit Gwalt." Im Felde hätten die Kameraden rote Bänder darüber gezogen, setzt er hinzu. Ich bitte ihn, mich die Kokarde näher betrachten zu lasse«, und er gibt sie mir und sagt dabei, sie sei noch vom alten Kaiser Franz. „Schauen S'!" Ich lese die Buchstaben 3. l." „Und den Adler aufm Umschwung dürfen st halt a nit schaun," wendet er sich wieder zum Kameraden am Fenster und entfernt das Koppelschloß mit dem Doppeladler. „Denn das Östreich wolln st nit mechr gelten lasten, d' Tschechen." Ich will ihm die Kokarde zurückgeben. Er wehrt ab. „Die sollen S' b'halten." Und in kindlich bittendem Tone fügt er hinzu: „Aber in Ehren halten soll S'! S' ist vom alten Franzel." So sing es an. Die Tschechisicrung Deutschböhmens ist seit jenen Tagen plan mäßig betrieben worden und weiter und weiter fortgeschritten. Da hielt es mich nicht länger mehr im Hause. Jeder Tag brachte Nachrichten herüber, daß das Deutschtum auch in unserer böh mischen Lausitz mehr und mehr eingeengt und bedroht werde und die Tschechen sich immer kühner als die Herren des alten deut schen Bodens zeigten. Ich wollte hinüber und sehen, wie es drüben stehe, drüben in dem lieben Lande, dem ich so unvergeßliche Tage