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Und wir kommen hinein, und sie rücken beiseite, daß wir uns zu ichnen setzen möchten. Sie nehmen uns auf, als wären wir ihnen gute Bekannte, nnd schwatzen mit uns heiter und traulich. Da werden Bande geknüpft, da fühlt man sich wohl. Gläser klingen: „Es lebe die Liebste deine, Herzbruder im Vaterland!" Und wie sich die Flasche leert, wird es lieber und schöner, und die Leute hier sind eine große Familie. Willkommen, wenn du eintrittst! Verschlafen schon liegen Markt und Gassen. Der Brunnen lullt sich in Schlummer. Wir gehen durch das nächtige Land. Hier noch ein Licht, da noch eins, im fernen Gehöft bellt ein Hund. Schwarz liegen die Bergwälder am Wege. Des Baches Rauschen mahnt jetzt heim. Am Zoll sitzt der Wächter und träumt in die warme Sommernacht hinaus. „Grüß Gott!" Nun sind wir wieder daheim in unserer Lausitzer Hütte. Das war? Za, wann war es doch? Ach, es ist schon lange, sehr, sehr lange her. Aber es scheint uns nur, als wäre es sofern, weil es heute ganz anders ist, hüben wie drüben, und weil wir wissen, die Zeit so sorgloser Schönheit ist — vorbei. Drum sind wir ja so froh, daß wir sie ans Herz gedrückt, die alte, gute Zeit! Drum sind wir ja so froh, daß wir sie noch erleben durften, die alte deutsch böhmische Lausitz. Denn wie siehts heute drüben aus? — Als der Krieg kam, sind wir noch manchmal über die Grenze gegangen, aber es wollte uns drüben nicht mehr recht gefallen. Wohl gingen noch die Mädchen über den Markt, aber sie sangen nicht mehr, sie schritten schweigend nebeneinanderher. Manchmal erzählte eins etwas, das mußte aber etwas Trauriges sein, denn die andern sahen dabei stumm vor sich hin, und das Plätschern des Brunnens klang wie stilles Weinen. Wohl saßen beim Schank noch die Bürger, aber es waren nicht mehr so viel, meist Frauen und alte Männer, auch feldgraue Zungen saßen drunter. Sie waren nicht mehr heiter und traulich, sie erzählten von ihren Söhnen, Vätern und Brüdern an der italienischen Front, von Lazaretten in den Karpathen und von Gräbern in den Alpen. Mühsam schleppten sich die Reden, es waren lange Schweige pausen drin und lange Blicke stumm zu Boden. Der Runde fehlte die wohlige Herzwärme. Die Gläser stimmten nicht mehr hell, es war fast metallischer Klang drin. Auch der Wächter saß nicht mehr am Zoll und träumte in die warme Sommernacht hinaus. Nur das Rauschen des Baches mahnte wieder heim, aber ernster und dringender. Einmal waren wir dann noch drüben. Das war um die Zeit der galizischen Kämpfe. Da lagen die Scharen der Flüchtlinge in den Dörfern. Bilder des Grauens haben unsere Augen ge schaut. Da standen die Leute, die vor Wochen noch reich gewesen und nun nichts mehr hatten als das Leben und die schlechten Kleider auf den einfallenden Körpern, angewiesen auf fremder Leute Gnade und Mitleid. Dort ein Kind, das Vater und Mutter verloren, verloren auf der Flucht. Es rührt keine Speise an, es weint und weint. Wo mögen sie sein? Wo mögen sie nach ihrem Kinde fragen? Sind sie noch am Leben? Da eine Mutter, in Schürze und Pantoffeln, wie sie unten in Rzesczow geflohen ist. Mit ihrem Säugling hat sie vier Tage im Keller zubringen müssen, während durchs Gemäuer drüber hin die feindlichen Kugeln sausten, vier Tage ohne Wasser und Brot. Und dann drei Stunden auf allen Bieren gekrochen, übers Blachfeld, unter den feindlichen Kugeln dahin, den Säugling an dieBrust gebunden. Nun lagen sie hier, die Vertriebenen, in den Sälen der Gaststätten notdürftig zusammengepfercht, martervoll ihre Vergangenheit und traurig ihr Jetzt, ihre Zukunft leer wie ausgeblasen. Die Dörfer klangen wieder von ihrem Jammer, und sie hatten doch an eigner Sorge schwer zu tragen. — Später fuhr man Steinhaufen an der Grenze auf und warf sie quer über die Straßen, die in das Böhmer Land hinein liefen. Schwer nur konnte man noch hinüber, in jedem sahen sie einen Spion. Das war kein schönes Wandern. Ach, wir gingen nicht mehr so gern hinüber an den frischen Sommersonntagmorgen. Wer nicht hinter die Grenzpfähle mußte, der blieb daheim. Mußte! So aller Poesie bar waren nunmehr die Fahrten nach Böhmen, arg zerpflückt wie schöne Blumen von harter Hand. — Wer hätte das an jenen Hochsommertagen geahnt, die so tief in Frieden gebettet lagen wie der Weiler im blumenreichen Tal! Aber es war noch nicht alles: Dann wurden die schwarzgelben Schlagbäume an den Grenzen geschlossen, und sie stöhnten in ihren Angeln, die in den Jahrzehnten deutsch-böhmischer Brüder schaft fast verrostet waren. Wir haben es damals ja nicht geahnt, was es bedeuten sollte, das Schlagbaumschließe». Wir warteten gutgläubig des Tages, an dem sie sich wieder heben würden und wir unter ihnen hinweg wandern könnten ins Böhmische hinein wie einst. So haben wir ja auch den Krieg geschaut, als eine Zeit der Betrübnis, nach der, wenn wir sie nur zäh durchharren, wir wieder zu den alten Zeiten zurück kommen. Erst heute will es uns dämmern, daß die Tage von damals für immer für uns vor über sind, daß wir gänzlich mit ihnen brechen müssen und nichts, auch nicht das geringste mit herüber retten können in die gänzlich neuen Verhältnisse, die wir noch immer nicht glauben können. Ist es drüben anders? Mit dem Schlagbaum an der Mark hat sich der eiserne Vorhang gesenkt. Was wissen wir, was hinter ihm geschieht ? Nur das, daß eine Verwandlung geschaffen wird. Und wenn er sich wieder heben wird: Wir werden es nicht glauben, daß es die alte Bühne sein soll, wenn wir ins böhmische Land hinein schauen. Es ist ja etwas ganzanderes, was man drüben schafft. Der alte Kaiser Franz ging zur Ruhe. Ach, sie singen nicht mehr: „Gott erhalte Franz, den Kaiser, unfern guten Kaiser Franz." Der Thron ist zerschlagen. Die Bilder vom greisen Kaiser werden von den Sockeln gestoßen. Fremdes Volk zieht in die Städte und Dörfer ein: tschechisch macht man's drüben, mit Gewalt tschechisch. Die Deutschen sehen ihre böhmische Heimat von fremden Händen Hinwegraffen. Man spricht nicht mehr so lieb und traulich, auch drüben schneiden scharfe Reden des Parteigezänks ins Ohr. Man kann nicht mehr an Sommerabenden sorglos am Schank sitzen, die Not ums Brot heißt auch drüben aus dem Damme sein. Wenn der Vorhang aufgehen wird! Wir werden uns nicht mehr zurecht finden im nachbarlichen Grenzland. Die Not ums Brot! Sie hat gar zeitig Einkehr gehalten drüben in den Hütten, sie lagerte hartnäckig in den Ecken und jagte die Leute auf die Gaffen. Sie kamen mit Weib und Kind herüber über die Grenze. Bei uns war selbst Schmalhans Küchenmeister, aber wir teilten mit ihnen das Wenige in unserm Brotschrank. Wie ein Bettelvolk liefen sie über das Land, einzeln und in Scharen kehrten sie in den sächsischen Grenzdörfern ein. Sie näch tigten in den Heuschobern auf den Wiesen, blieben zwei, drei Tage auf den Beinen, sättigten sich, wenn auch schlecht, so doch besser als daheim, und wer Glück hatte, brachte ein Brot oder wohl auch ein Stück Fleisch oder ein Säcklein Mehl mit nach Hause, war hochbeglückt und dankte im Herzen den deutschen Brüdern im Nachbarlande. In unserer Lausitz nahm man sich ihrer auch von Gemeindewegen an. Die Orte Taubenheim und Sprem- berg organisierten damals ein Liebeswerk für die Armen der böh mischen Nachbargemeinde vmgau, denen sie warmes Mittagsbrot verabreichten. So wanderten täglich einige dreißig FugauerKinder nach einem nahe der Grenze gelegenen Gasthause, wo ihnen warme Kost gereicht wurde. So fand der Deutsche am Deutschen Hilfe, hier in der Heimat, wie draußen im Felde. Ich erinnere mich noch des Tages — es war im Frühjahr 1918 —, als die Stadtväter von Schluckenau, welche damals bei den Lausitzer Städten und Kommunalverbänden um Zusendung von Lebensmitteln vorsprachen, zu uns kamen und uns ein Telegramm vorlegten, das sie am 4. April an den Deut schen Kaiser gesandt hatten und in dem es u. a. hieß: „Die deutsche Stadt Schluckenau ist seit einer Woche ohne Brot nnd Mehl. Namens der gut deutsch gesinnten Bevölke rung, welche unserm Verbündeten in treuer Verehrung huldigt, bittet der Stadtrat Ew. Majestät um dringende Hilfe durch Zuweisung ausgiebiger Mehlmengen oder Ersatz in Kartoffeln, weil nur dadurch eine Katastrophe vermieden und das Durch halten der armen Einwohnerschaft ermöglicht wird." Das war um dieselbe Zeit, als von Böhmen aus eine Bewegung ins Leben gerufen worden war, welche einerseits die Versorgung der deutsch-böhmischen Gemeinden mit Lebensmitteln durch die deutsche Regierung, anderseits den Anschluß Nordböhmens an das deutsche Wirtschaftsgebiet bezweckte: eine Bewegung, welche