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Ketten. Sie machte sich los. Sie war zappelig wie ein Zick lein, sprang um den Tisch, kam wieder zurück und stellte sich mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor den Vater. Ihre Augen lachten ihn schelmisch an. „Vater, ich freu mich!" „Das ist ja recht. Und worüber, mein Wildfang?" „Weil du dich auch freuen wirst." „Weißt du das schon?" „Ja, ich weiß es, ganz bestimmt." „Nanu? — Ist Herr Tauscher gekommen?" „Wie du neugierig bist, Vater! Herr Tauscher kam vor hin, er ist im Garten bei der Mutier. Aber das mein' ich nicht. Was ganz anderes! Aber ich sag's nicht, du mußt raten. — Na, rat nur! Es ist ganz leicht." Sie ließ ihm zum Überlegen nicht viel Zeit und zwitscherte wie ein Schwälbchen. „Ganz leicht ist's! Na, worüber freust du dich? Ich weiß es, und du selber weißt es nicht! — O du kannst schlecht raten, Vater! „Ist ein Brief gekommen?" „Falsch!" „Du hast mir einen schönen Strauß geschnitten!" „Daneben geraten!" „Annele, du darfst deinen Vater nicht foltern!" Sie wollte ihn eigentlich recht lange foltern. Wenn's nur für sie selber nicht eine Qual gewesen wäre! Das Geheimnis rumorte immer stärker in ihr und wollte hinaus. Wie sollte sie widerstehen? „Paß auf, Vater!" sagte sie, sprang nach dem Glosschrank hinüber und nahm den Abreißkalender von der Wand. „Du wirst aber staunen, Vater!" Sie legte den Kalender vor ihn auf den Schreibtisch. „So, jetzt qeht's los. Lies mal!" Sie zeigte nach der rechten unteren Ecke des obersten Blattes. Und Trundmann staunte wirklich, als er die von Kinder hand geschriebenen Ziffern sah: „Hoho, das hast du selbst geschrieben? Der tausend —" „Lies nur!" drängte sie und stampfte ungeduldig mit dem Fuß. „Neunundzwanzig." Sie riß das Blatt ab und zeigte auf die Ecke des nächsten „Hier?" „Achtundzwanzig " Ehe er's verhindern kannte, war's abgerissen: „Liier?" „Siebenundzwanzig. Ach, ich weiß! Geraten! Großartig, mein Kind. Komm!" Er hob sie aufs Knie. Nein sie war noch nicht fertig. Sie wollte auch diesen Zettel abreißen. „Halt ein! Bloß blättern, sonst stimmt der gute Kalender nicht mehr." Sie blätterte, und der Vater las: sechsundzwanzig, fünf undzwanzig bis zwei. „Und jetzt. Vater! Jetzt Kommis!" Sie hatte schnell um geblättert und beide Hände aufs Blatt gelegt. „Paß aus! Jetzt!" In großen, ungeschickten Buchstaben, dreimal abgeteilt, stand da: „Mum-elswal-lte". Da wurde der große, gesetzte Herr Doktor doch selber wie einKind.„Annele! In neunundzwanzig Tagen!" rieferund streckte das zappelnde, lachende Mädel hoch in die Luft. „Siehst du, ich habe gewußt, daß du dich freuen würdest." „Ja, du kennst deinen Pater!" Und die Mutter versteht, ihn zu überraschen, dachte er; denn natürlich stammte der Parolegedanke von Gottlob?, sie wußte eine sehr sinnige Anwendung von Anneles Schreibkunst. „Heute wollen wir auch Herrn Tauscher mal eine Freude machen," sagte Grundmann. „Herrn Tauscher? Wieso denn?" Der Vater zuckte die Achseln. „Siehst du, jetzt hab' ich ein Geheimnis. Und nun mach' ich's wie du!" „Willst du ihn auch die Tage zählen lassen?" „Nein. Rat nur! Es ist ganz leicht." „Willst du ihm was geben?" „Nein. Du kannst aber schlecht raten! — Na, weißt du, du holst ihn mal herauf und dann wirst du's gleich sehen!" Das Mäochen sprang davon. Grundmann steckte die Tabeera Budissinae wieder in den Briefumschlag. Heute konnte er ja doch nicht mehr studieren. Annele hatte seine Gedanken aus schauderooller Vergangenheit herausgcrissen und auf die lichten, freien Ferientage in Dorf und Feld und Wald und Heimat gelenkt. O das sollten diesmal Ferien werden! Den ersten Teil seines Geschichtswelkes würde er bis dahin noch zu Ende führen, und dann konnte er den Monat der geistigen Erholung leben. Er wollte bei der Ernte tüchtig mit zuqreifen, abends mit Dorfgenossen plaudern, mit Kantor Wildemut ein paar Wanderungen macken und auf den Fliegenfanq gehen; denn der gehörte zu des Kantors Leidenschaften, er besaß die vollständigste Insektensammlung Sachsens.An Regentagen konnte man auch Wilvemuts reich haltige Bibliothek benutzen. Auch baden wollte er oft in den großen Englischen Teichen. Braun wie Kastanien und ge sund mußten sie alle drei nach Dresden zurückkehren. Bei dem Gesund dachte Grundmann an Annele, das zwar meist lustig und flink war wie ein Ferlchen, aber blasse Wangen hatte. Der Arzt hatte Blutarmut festgestellt und bessere Er nährung empfohlen. Empfohlen, ja; denn was andercs konnten die Arzte nicht tun: wenn man dem Apotheker Atteste vorlegte, zuckte er bedauernd die Achseln: „Tut mir leid, ist nicht mehr zu haben!" Glücklich also, wer aufs Land gehen konnte! „Nun, schlechte Nachrichten von daheim?" fragte Grund mann, da Tauscher sehr niedergeschlagen war. Ja, es gehe dem Vater immer schlechter, berichtete Tau scher! Bei seinem Alter! Bei der Entbehrung! Bei dem Brote! Das Kriegsbroh bald weich und teigig, wie Plastilina, bald hart wie Stein, bald gelb und rübensüß, bald schwarz und grob, mit Schalen, Holzsplittern und Stöpseln und allerlei Unrat, es quälte, folterte, zerriß einen alten, schwachen Magen. Nun sei der Mann auf die Güte anderer angewiesen, eine Nachbarin nähme sich seiner an, doch auch nur gelegent lich, da sie auf einem Gute arbeite. Da rückte Grundmann mit seinem Plan heraus. „Deine Gertrud soll zu ihm!" Tauscher nickte. „Freilich, sie kennte ihm schunn woas nutzen. Goar lieb würd's ihm senn. Ar hing an Kindern. Und uns wär's ane Beruhigung, wenn ees vun eegen Leuten bau wär'. Freilich, freilich, aber — 's gilt ni." „Und auch deiner Gertrud könnte es nichts schaden, wenn sie eine Weile heim aufs Land ginge." Da verdunkelten sich die Schlitten auf Tauschers Gesicht noch. Das Mädel! Das machte ihm Sorge, doppelt Sorge! Rein und rotwangig, wenn auch nicht so rund, aber doch so frisch wie ein eben reifer Nelkenapfel war ihr Gesicht ge wesen und heute, nach einem halben Jahr! Auch wieder einem Apfel gleicht ihr Gesicht, aber einem, der zu lange ge lagert, der Glanz und rote Wange cingebüßt hat. Sie ge deiht mir nicht hier, hatte der Pater oft gedacht. Und dann die Geschichte mit dem Musiker! (Fortsetzung folgt.)