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-Nr. N GbsrlauMsr Heimatzeitung ISs Die Heimatlosen Roman von Oskar Schwär (Fortsetzung) at sie das Recht oder die Pflicht, ihren Einfluß auf die innere Verwaltung in demselben Maße geltend zu machen wie im Frieden? Wie weit steht ihr Kritik zu an der Kriegführung und an der Arbeit der Diplomatie? Diese Frage wurde überall er ¬ örtert. Grundmann, der trotz der Heinriche an die politische Reife des Volkes glaubte, hielt die Geheimdiplomatie für überlebt und verhängnisvoll und neigte dazu, den Reichs- tage weitgehende Rechte zuzusprechen. Er sah aber auch die Gefahren: wenn im Reichstag offene Kämpfe für und wider jeden Schritt der Regierung und der Heeresleitung geführt wurden, so war's mit der Einigkeit des deutschen Volkes vorbei, und wir verloren die beste Waffe. Immerhin wünschte er, daß wenigstens in den allerbedeutsndsten Fragen die Volksvertretung oder ein Ausschuß derselben gehört würde, damit nicht verhängnisvolle Fehler von der verantwortlichen Person, die doch auch nur ein Mensch ist, gemacht würden. Einen solchen Fehler, dessen schlimme Wirkungen nicht ab zusehen mären, befürchtete Grundmann in der Auseinander setzung mit Amerika über den U-Bootkrieg: wir könnten uns dieses mächtige Volk zum Feinde machen. Er schrieb seine Gedanken über diese Dinge in sein Tagebuch. Als er dann, ausruhend, zurückblätterte und zweiund zwanzig Monate Krieg norüberhuschen ließ, stieß er auf eine Bemerkung aus dem September 1914: Was das herr lichste ist in dieser Zeit? Daß sie nur Taten kennt, nur Taten wertet. Eine große Schlacht schlagen und den Sieg in zwei Zeilen berichten, erinnert an das wortkarge Helden tum der Alten. Das beweist nicht, daß wir Verächter des Wortes geworden sind. Im Gegenteil, es beweist, daß wir mit der Tat erst das Wort wieder schützen gelernt haben. Die Tragfähigkeit der Sprache, das Gewicht, die Bedeu tung jeder Silbe ist uns bewußt geworden. Nun wissen wir wieder mit Worten zu sparen und sie zu würdigen 'wie lauteres Gold. Ein bitteres Lächeln spielte um seinen Mund. Was er da geschrieben hatte, war nur noch eine schöne Erinnerung, es stimmte längst nicht mehr. Herrn Heinrichs Drommetentöne klangen ihm noch unangenehm in den Ohren.Auch sonst wurde nur gar zu viel geredet. Nach mancher Kaiserrede schüttelte Grundmann den Kopf: „Kaiser Wilhelm der Romantische". Mancher von hochstehenden Persönlichkeiten gehaltener Vortrag kam ihm zu wortselig, zu hochtrabend und zu un nütz vor. Er beobachtete auf der Straße, auf der Bahn, wo zwei oder drei versammelt waren, daß die Zunge des Volkes die unter den gewaltigen Eindrücken der ersten Kriegswochen angenommene Zurückhaltung aufgegeben hatte. Sie war das empfindliche Instrument, das jede leichte Bewegung der allgemeinen Stimmung sofort anzeigte. Siege vor Ver dun wurden verkündet. Allenthalben wurde Jubel laut, Voraussagungen des baldigen Falles der starken Festung, Berechnungen der nun nicht mehr langen Kriegsdauer Bei manchem schlug dcr empfindsame, lockere Slimmungszeiger noch weiter aus. Auf der Straßenbahn hörte Grundmann zu, wie einer seinen Plan erzählte, sogleich nach dem nahe bevorstehenden Friedensschluß, vielleicht noch in diesem Herbste — der Oktober bringe ja ost schöne Reisetage — die Schlachtfelder im Westen zu besuchen. And er vernahm aus dem Munde eines täglich den Wagen benutzenden Frau chens die Freude darüber, daß ihm das Glück der lang ersehnten wirklichen Ehegemeinschaft in Kürze beschert würde. — Der Kriegsbericht meldete, daß wir die eroberten Forts wieder preisgeben mußten. Die Zunge zeigte ein Sinken, ja ein Stürzen der Stimmung an. „Paßt auf: den Krieg verlieren wir. Ich hab's schon immer gesagt, wir sind ge liefert." „Na und die Soldaten! Sie machen einfach nicht mehr mit. Was meiner heimgeschrieben hat, na! Man darf's nicht sagen, aber O weh, das sieht böse aus. Was wir für Menschen einaebüßt haben! Ruiniert sind wir!" Grund mann saß in der Straßenbahn dem kriegsgetravten Frau chen gegenüber, das er vor ein paar Tagen glückstrahlend von der Zukunft reden hörte; heute klagte es der Freundin mit nassen Augen: „Was hat man von seiner Ehe, von seinem bischen Leben! Rein nichts. Der Krieg hat Kein Ende. Und wer weiß, ob man sich wiedersieht!" — So wechselte die Stimmung stetig wie Ebbe und Flut. Grundmann schloß sein Tagebuch. Es stand noch manches drin, was heute nicht mehr stimmte. Er war eben auch in dem bewegten Meer der Volksstimmung nicht wie ein Fels starr und fest geblieben. Wer hätte das vermocht? Und wäre es ganz richtig gewesen? Nur in einem war Grundmann mit sich selbst zufrieden: er meisterte seins Zunge. So heftig und soviel, wie er neulich dem heroischen Herrn Heinrich entgegnete, hörte man ihn sonst nie über politische Dinge reden; er sprach sich darüber nur mit Leuten aus, die sich mit der Zeit in so ernsthafter Weise auseinandersetztcu wie er selbst. Ec legte die Zeitungen zusammen und holte vom Tische einen schon geöffneten großen Briefumschlag, dem er ein vergilbtes Heft entnahm. „Da hat er mir was Kostbares ge schickt, mein lieber Herr Kantor!" sagte er vor sich hin und nickte zufrieden. Die Sendung kam von Kantor Wildemut aus Mummelswalde, der Dr. Grundmanns Heimats- und Geschichtsforschung durch eifrige Quellensammlung unter stützte und sich durch allerlei lokalgeschichtliche Veröffent lichungen verdient gemacht hatte. Grundmann las sich laut den in allen Schriftsorten ge druckten Titel des alten Heftes vor: „Tabeera Budissinae, Budiszinische Brandstelle / das ist: Was vor / in und nach erbärmlichen Ruin und Einäscherung der alten Volck-reichen und nalphafftiqen Haupt-Stadt BÜDI8SIN vorgangen / welche Anno 1634 den 2 Map / so wohl aussen als in wendig / mit einem unauslöschlichen Feuer angestecket / darinnen viel hundert Menschen / nebenst dem Viehe / grossen Vorrath / Kirche / Glocken / Thuermen / Rath-Hans / Wein- Keller/ und alles in Grund weggcbrannt worden." „Köstlich! Köstlich!" rief er und setzte sich zurecht, um gleich noch ein Stück aus diesem ihm bisher unbekannten Dokumente zu lesen, aus dem er sicherlich noch Wichtiges für sein Werk „Die Lausitz im dreißigjährigen Kriege" er fahren würde. Da klopfte es. „Herein!" Und schon stand sein blondes, helläugiges Mädel im Zimmer. „Vater, störe ich?" Grundmann legte die Schrift, die erfüllt war von der Lohe der unauslöschlichen Feuer, vonBlutrunstund Jammer geschrei, wieder weg. „Ach, Annele! — Nein, nein, komme nur! Was bringst du mir denn?" Er strich ihr mit der Hand über ihr weiches Haar und küßte sie. Aber Annele machte heute nicht lange Zärtlich-