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kend, geschmettert hatte. Oder das süße: „An der Gartentü—a—ür, Da hatte sie mi—a—ir Sanft die Hand gedrückt." Liebesglück nnd -Leid, Krieg feindlicher Nachbarn, Fre veltat nnd Sühne, Trennung und Wiedersehen, lustiges Ssl- datenlebeu und harmlosesten Ulk — alles nahm ich mit stack ster Anteilnahme auf. Ernste Handlungen bewegten mich noch lange. In Gedanken spielte ich sie nach, spann sie aus, wenn der mir sympathischen Person nicht im Stücke Gerechtigkeit widerfahren war. Und sobald wieder in nuferem Laden ein Plakat aufgehängt wurde, das eine Aufführung des Turn oder Gesangvereins oder auch einer fremden Truppe nnkün- digte, lag ich meiner Nkutter in den Ohren, daß wir doch ins Theater gehen möchten. JUein Vater besuchte keine Vor stellung; er hielt nichts von der Komödianterei, und da >r sich den ganzen Tag keine ruhige Stunde gönnte, fehlte ihm abends die Lust zu einem Ausgange. Aber die Mutter, die doch auch vom Morgen bis zum Abende schaffen und sorgen mußte, sehnte sich ab und zu nach einer Abwendung vom All tag und Ivar bereit, sich ein paar Stunden lang der Welt des Scheins hinzugeben. Ich habe auch wahrnehmen können, daß sic für Ernst nnd Scherz gleich empfänglich war. Sie zeigte darum Verständnis für mein Verlangen, nnd konnte sie nicht mitgehen, so gab sie mir die nötigen Groschen, da mit ich allein der Aufführung beiwohnen konnte. Dafür bin ich ihr heute noch dankbar; denn jeder Theaterabend war ein Fest für mich, ein Erlebnis, das in mir weiterwirkte. Es konnte nun nicht ausbleiben, daß ich selbst Theater „machte". Zunächst auf die primitivste Art: Ich verkleidete mich, zumeist als Frau oder als Soldat, lief auf und ab und hielt Monologe. Als Soldat trug ich einen richtigen Offi- ziersdcgen, den ich mir vom Nachbar, dem Bäcker, borgte. Natürlich fand ich bald Mitspieler. Wir „schcuselten uns an", nnd wenn meine IUutter und die Nachbarn über un sere Verkleidung lachten, reizte uns das, ihnen etwas vorzu machen, aus uns heranSzugehen. Oft artete die Sache aus: Den dramatischen Höhepunkt bildete eine Schlägerei oder ein Monstrc-Konzcrt. Ich hatte sehr früh das Ziehharmonika spiel erlernt, ein Kamerad hatte eine Mnmdharmonika, im Sommer bereiteten wir uns dazu noch aus Weideurinde „Schnätel", „Pfcifel" und „Tuten", wer sonst noch Mit wirken wollte, nahm eine von den bei uns vorrätigen Brat- hcringsbüchscn und benutzte sie als Trommel. Das gab Sami eine zwar unharmonische, aber dafür sehr laute, Nkark und Bein erschütternde Musik. Später verfeinerte sie sich etwas. Freund Paul und ich erlernten das Geigespiel, und wenn wir dann einmal ein Orchester bildeten, wurden nur noch Har monika und Trommel zur Violine erlaubt. Als ich dann mch noch ein Klavier bekam, hätten sich unsere musikalischen Soille bedeutend entwickeln können, allein nun hatten wir kaum noch Zeit dafür. Doch war mir vorher noch einige Nkalc Gelegenheit geboten worden, meine Darstellnngslnst zu befriedigen. Hnu- decks Marionetten Theater, dessen Vorstellungen ich stets be suchte, hatten mir allerlei dramatische Stoffe geliefert, die ich aber nur für mich allein nachspielen konnte. Bei den Aus führungen Hnndccks durfte ich nur untergeordnete Diente leisten wie Zettel austragen nnd klingeln und zuletzt beim Einpacken der Marionetten helfen. Doch dann kam Ster necks Truppe. Sie gab auch das „Schneewittchen" und brauchte Knaben für die Rolle der sieben Zwerge. Da ich mich gleich nach Eintreffen der Gesellschaft, die ja in unse.'m Laden Zettel aushing und Eintrittskarten verkaufen ließ, an sic heranmachte, wurde ich mit auserwählt. So brachte denn die „Schneewiktchen"-Aufführung mein Debüt. Im schwar zen Zwergen-Kostüm und mit langem, weißem Barte mar schierte ich mit den andern Sechsen mehrfach über die Bühne, trug mein Hämmerlcin, saß am Tischlein, klapperte mit Sem M'esterlein. Da war noch nichts Besonderes dabei: Dis taten die anderen auch. Aber dann hatte ich eine Handlung auszuführen, die sonst niemandem vergönnt war. Leider mußte ich schwere Hemmungen überwinden, sodaß ich den Genuß, ser in dieser Handlung hätte liegen können, nicht erschöpfte. Das arme, aber noch im Tode so schöne Schneewittchen lag auf gebahrt. Einer der sieben Zwerge mußte ihm de» Abschiedsr iß geben. Zch trat klopfenden Herzens an den Sarg. Schnee wittchen ermunterte mich mit leisem Augenzwinkern. Da beugte ich mich, küßte ihre Lippen, sagte mein Sprüchlein: „O, schmeckst du süß!" nnd huschte in die Kulissen. „Dum mer Zunge!" empfing mich der Direktor. Zch wußte nicht, warum, fragte auch nicht danach. Erst nach der Aufführung erfuhr ich, was ich falsch gemacht hatte: Zch war nach Sem Küste schnell mit dem Ärmel über meinen Mmnd gefahren, und der feierliche Akt war darum nicht mit schweigender Rührung, sondern mit einem Gekicher im Publikum aus genommen worden. Dann kam ein Schulfest. Da wurde ich als „Kapelle" in den Zirkus bestimmt. Stundenlang spielte ich ans mciier neuen zweireihigen Harmonika „WAßt du, Ntukkcrl, was i träumt hab' . . .", „Still ruht der See . . ." und „Denn alles, was von Hamburg kommt, das muß gestempelt sein". Kronemann machte den „Bojaß", sprang wie ein Böckchen in seinem weiten Kostüm herum, schwadronierte allerhand Ge reimtes und Ungereimtes und ulkte die Zuschauer au. Sein Hauptwitz bestand darin, daß er die Leute mit den TJorten begrüßte: „Hochverpubeltes Ehrliknm!" Daö wiederholte cr so oft, wie Zuschauerwechsel staktfaud und auch immer wieder während seiner Vorstellung. An diesen Tagen erfuhr ich, daß Mitwirken auch Verzichten heißt: Von den Freuden, die Scn Kindern zugedachk waren, genoß ich sehr wenig, da ich ja im Zirkuszelt sitzen und ewig meine Stucke spielen mußte. Bald darauf gab ich in Micklisch-Schlosters Scheune eigene Vorstellungen. Zch hatte neue Anregungen crhaltm, und zwar auf der Bautzener Schießbleiche. Dort hatten mich meine Verwandten in ein Varietee mitgenommen. Zch war begeistert von dem Programm. Mehr als die Darbietungen der befrackten Sänger und Soubretten fesselten mich die klei nen dramatischen Szenen nnd die humoristischen Solvvorträgc im Kostüm. Zwei Nummern hatte ich mir genau cingeprägt, und nach meiner Rückkehr drängte cs mich, sie auch meinen Kameraden vorzuspielen. Die Tenne einer Scheune Ivar Sa-u sehr geeignet. Am Torbalken brachten wir Vorhänge an, im Hintergründe schufen wir mit Hilfe von Tüchern einen Um kleideraum. und der freibleibende Teil der Tenne gab ein ge räumiges Podium ab. Den größten Erfolg hatte ich mit einer Fraucnrolle. „Schon beim Erscheinen lebhaft begrüßt", so hätte der Bericht melden können. Kein iWnnder: Die Kostü mierung war so kurios wie nur möglich, langer Rock, bunte Bluse, Umschlagetuch, neckisches Gtrohhütcheu, am Arm ein Handkörbchen, in der Hand einen großen Schirm mit Fis.h- beinstäbchen. Nachdem sich das Publikum beruhigt hatte, be gann ich, mit der dünnen Stimme einer Alten und mit dra stischem Gebärdenspiel: „Habt ihr denn Ahnung, wer ich bin? Zch bin die Frau Vsahrsagerin!