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Grenzland Sachsen in Rot! Land und Leute — Kultur und Wirtschaft eiues Fiini- Millionen-Volkes Von Ministerpräsident Walter Schi eck. Es ist eigenartig, daß in der Öffentlichkeit, wenn vom deutschen Grenzland die Rede ist, immer nur von einer Ostgrenze und von einer Westgrenze gesprochen wird, wäh rend die bedeutend längere Südgrenze eigentlich fast nie in diesem Zusammenhang Erwähnung findet. Man lebt zum großen Teil auch heute noch in den geographischen Vorstellungen der Vorkriegszeit, in der die reichsdeutsche Südgrenze von Lörrach bis Odenberg in ihrer wesentlichen Ausdehnung mit der des bundesvrüderlichen Österreichs zusammensiel und einer politischen oder strategischen Be deutung entbehrte. Die umwälzende geographische Um schichtung des mitteleuropäischen Raumes Hat aber gerade hier und besonders für Sachsen als Grenzland' so entschei dende Veränderungen gebracht, daß sie die Beachtung aller für das deutsche Schicksal Verantwortlichen verdient. Rein äußerlich ist die süddeutsche Reichsgrenze — von der Ab tretung des Hultschiner Gebiets abgesehen — unverändert geblieben. Das Diktat von Versailles hat uns aber an die Stelle des engbefreundeten Österreich einen neuen Grenz nachbar, die tschechoslowakische Republik, gesetzt. Damit ist ans der früheren unsichtbaren Scheidelinie zwangsläufig eine echte Grenze geworden, die an Bedeutung nnd ihrem Charakter jener im Osten und Westen des Reiches gleich kommt. Bei der Bevölkerungsdichte in Sachsen, wo allein auf das Grenzland — die Großstädte Dresden, Chemnitz und Plauen sind dabei nicht einbezogen — Millionen Ein wohner entfallen, das sind 202 Einwohner auf einen Qua dratkilometer Fläche, müssen sich naturgemäß Krisenzeiten in weitaus stärkerem Maße auswirken als in weniger be siedelten Grenzländern iso hat z. B. das bayerisch-tschechische Grenzgebiet knapv 400 000 Einwohner bei einer Bevölke rungsdichte von 69 auf einen Quadratkilometer). Tatsäch lich hat im sächsischen Gebiet die Arbeitslosigkeit jedes bis her dagewesene Maß überschritten und nicht zuletzt unter dem Einflüsse der grenznachbarlichen Veränderungen. Vor dem Kriege verbanden Sachsen und das Nachbar land tausend Fäden kultureller, wirtschaftlicher und poli tischer Art. Das Versailler Diktat hat vieles an diesen Verhältnissen grundlegend gewandelt. Natürlich fühlt und denkt die Bevölkerung von jenseits bis weit in das tsche chische Land hinein nach wie vor mit der deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft. AVer jetzt erschweren hohe Zoll mauern, Paß- und Grenzformalttäten verschiedener Art den einst ungehemmten Verkehr über die böhmische Grenze. Die Kriegsfolgen, vor allem die Tributlasten, haben sich in dem sächsischen Grenzgebiete besonders verhängnisvoll ausgewirkt, da hier die Wirtschaft unter bedeutend höheren Steuern und Soziallasten zu arbeiten hatte als in dem unmittelbar angrenzenden tschechoslowakischen Grenzgebiet. Mehr und mehr Betriebe auf sächsischer Seite kamen aus diesem Grunde zum Erliegen. Die tschechoslowakische Ne gierung war dagegen in der glücklichen Lage, den zum Teil neu errichteten ober ausgebauten Gewerbe- nnd Industrie zweigen im Grenzgebiet durch die verschiedensten Erleichte rungen auf dem Gebiete der Zollgebühren, der Steuern und des Verkehrsausbaues weitgehend zu helfen. Wo einst sächsische Firmen Holz, Steine. Maschinen, Bekleidungs stücke nach Böhmen geliefert hatten, setzte im Laufe der Zeit die umgekehrte Bewegung ein. Besonders hart wird von diesen Vorgängen die bodenständige Heimindustrie auf sächsischer Seite — Spitzen, Posamenten. Musikinstrumente, Spielzeug, künstliche Blumen — betroffen. So beschäftigt, um nur ein Rcisviel herauszugreifen, die Posamenten- und Spielwarenindustrie zusammen heute nur noch etwa i 10 000 Menschen gegenüber 30—40 000 in Zeiten wirtschaft lichen Aufschwungs. Kaum besser geht es heute dem dor tigen Handwerk und der Landwirtschaft. Wenn es den Be mühungen der sächsischen Regierung auch gelungen ist, einen kleinen Teil der Landwirtschaft, soweit er rechts elbisch liegt, mit in die Osthilfe einzubezichen, so sind' doch weitere Hilfsmaßnahmen auf breiterer Grundlage drin gend notwendig. Wohin man schaut, hat sich der wirtschaftliche Wett bewerb im Grenzland zu einem Existenzkampf im wahrsten Sinne des Wortes verschärft. Mit dem Wohl und Wehe seines Grenzgebietes ist bas ganze sächsische Land auf das engste verbunden^ entfällt doch der sächsischen Bevölkerung auf das Grenz gebiet! Flächenmäßig betrachtet, ist der Anteil des Grenzgebietes mit zwei Fünftel am Gefamtgebtet noch größer. Wer auf der Leipziger Messe gesehen hat, wie stark sie gerade aus jerrem Teil des Landes mit Exportgütern mannigfaltiger Art beschickt wird, der mntz erkennen, welch wertvoller Faktor dieses Gebiet für die sächsische und die gesamtdeutsche Wirtschaft ist. An der Ausfuhr Deutschlands nach den Vereinigten Staaten von Amerika war Sachsen noch im Fahre 1928 mit 28,2 v. H. beteiligt. Unter dem Drucke der Wirtschafts krise sank dieser Anteil Sachsens 1930 auf 24,4 v. H. Auch nach den anderen Länder» war die sächsische Ausfuhr kaum geringer. Der Anteil des Exportlandes Sachsen an der deutschen Textilwarenausfnhr wird sogar mit 6028 geschätzt. Es ist sicher keine Übertreibung, wenn man behauptet, daß Sachsen dem deutschen Volke etwa sl aller hereinkommen den Devisen verschafft. Was das gerade bei den gegenwär tigen Schwierigkeiten des deutschen Geldmarktes für das Reich bedeutet, braucht kaum näher begründet zu werden. Der Freistaat Sachsen, in dem 333 Menschen auf je einen Quadratkilometer kommen, ist nach den statistischen Feststellungen nicht nur das am dichtesten besiedelte Land der Erde, sondern auch das industricreichste Land der Erde überhaupt, nicht etwa nur Deutschlands! Die Jndustrieziffer des Freistaates Sachsen steht z. B. 10?L über der Englands oder der Weltstadt Berlin. Nach den Forschungsergebnissen der Konjunkturstatistik wächst die Konjunkturempftndlih- keit eines Landes mit der Höhe der Jndustrieziffer. Kann es da wundernehmen, daß dieses Land unter dem heutig-» weltwirtschaftlichen Zusammenbruch am schwersten von allen Ländern zu leiden hat? Wie verhängnisvoll sich die Arbeitslosigkeit in Sachsen answirkt, ergibt sich aus fol genden Zahlen: End>e 1931 betrug der Reichsdurchschnttt der Wohlfahrtserwerbsloscn 27,2 vom Tausend, Preußen hatte eine Durchschnittsziffer von 29,1. Die süddeutschen Länder waren bei der glücklichen Verteilung von Land wirtschaft und Industrie bedeutend günstiger daran, so z. B. Bayern mit 16,3, Baden mit 14,9, Württemberg so gar nur mit 6,9 v. T. Die sächsische Vergleichsziffer von 45,4 (die bis Ende April 1932 sogar den Stand von 56,8 erreicht hat) zeigt deutlicher als alles andere die drückende Schwere der besonderen Lage Sachsens. In guten Zeiten hat das gewerbfleißige Sachsen weit über den Durchschnitt der anderen deutschen Länder hinaus Einkommen-, Kör perschafts-, Kraftverkehrs- und andere Steuern aufgebracht. Darum hat es auch das Recht, zu fordern, daß ihm ge holfen wird, wenn seine Not weit über dem Durchschnitt der anderen Länder liegt. Die sächsische Regierung hat durch einschneidende Ausgabeeinschränkungen auf allen Ge bieten der Not Rechnung getragen, insbesondere durch eine umfassende Verwaltungsreform und durch Kürzungen der Beamtengehälter über die Rcichsmaßnahmcn hinaus. Cs hat seinen Etat um fast 2526 gesenkt und ist damit bis an die Grenze des Möglichen gegangen. Sachsens Grenzlandnot ist deutsche Schicksalsnot. In seiner lOOOjähriaen Geschichte hat Sachsen bewiesen, daß es in schweren Zeiten stets zu Opfern bereit war. Seine