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Mein Freund Wuttke Von Oskar Schwär Hermann Wuttke war ein Bauernjunge vom Eigen. Aber nicht einer von den Breitspurigen und Selbstbewuß ten. Sein Vater batte im Dorfe die kleinste Wirtschaft und die kinderreichste Familie. Alle Klassengenossen mochten den Wuttke gern, auch die Lehrer. Es steckte so etwas Ehrliches, Ursprüngliches, Kerndeutsches in ihm. Es ging von seinem ganzen schlichten Wesen der frische Atem des Ackers aus. Man lächelte zwar am Anfang oft über seine eckigen Bewegungen und sein zaghaftes, fast stotterndes Sprechen, und der Deutschlehrer, ein Schöngeist, der in Wort, Haltung und Kleidung Vor nehmheit und Schneid zeigte und diese Eigenschaften auch seinen Schülern anerziehen wollte, brachte Wuttken seine Schwerfälligkeit oft drastisch zum Bewußtsein, jedoch ohne Erfolg, und zuletzt lachte nicht nur die Klasse, sondern Wuttke und der Lehrer mit. Nicht etwa, daß er trotzig Widerstand geleistet hätte, nein, er bemühte sich, Gewandt heit und feine Form sich anzueignen. Aber gerade dabei reizte er zum Lache«: es war, als wollte ein Bär die graziösen Bewegungen eines Tanzmeisters nachahmen. Er fühlte das wohl selbst und nahm uns das Lachen nicht übel, überhaupt war er schwer zu beleidigen. Im Ernst hätte das auch niemand versucht. Er war so naiv ver trauensvoll, offen und gut, so kameradschaftlich, daß sich kaum einer mit ihm verfeindet hat. Wuttken äußerlichen Schliff beizubringen, gab schließlich auch der Deutschlehrer auf. Diesem Naturkindc mußte man Zeit lassen, es mußte von innen heraus sich wandeln. Und diese Hoffnung durfte mau hegen: denn Wuttke arbeitete fleißig, mit Lust und Liebe. Wie ein Wanderer die wechselnden Bilder einer ihm bisher unbekannten Landschaft, so nahm er mit Staunen das Neue der Wissensgebiete auf. Wie waren die groß und reich! Was würde da noch alles kommen! Er lernte nicht, er empfing alles wie ein Geschenk. Ja, es erquickte ihn das schwerste wie den Hungrigen ein Bissen Brot. Und sein Hunger war täglich neu und stark. Nm ihn zu stillen, ent lieh er Bücher aus der Bibliothek. Was mancher, der ans einer anderen höheren Schule an unsere Anstalt herüber gekommen war, blasiert belächelte, bereitete ihm den Ge nuß eines die Sinne überraschenden Neuen. Ein unbe schriebenes Blatt, das sich mit inhaltschweren Zeichen füllen wollte. An solchen Schülern hatten die Lehrer Freude. Da brach das Unglück über ihn herein, ungeahnt nnd plötzlich. Mitten in einer Religionsstunde trat der Direktor in die Klasse, sagte dem Lehrer etwas ins Ohr und nahm dann Wuttken mit hinaus. Zu Mittag fehlte er im Speise saale. Im Nachmittagsunterrichte teilte uns der Klassen lehrer mit, daß Wuttke den Vater verloren habe, und bat uns, rücksichtsvoll gegen den armen Kameraden zu sein. Eine überflüssige Ermahnung, denn wir alle empfanden Mitleid, wenn auch bei uns Sechzehnjährigen solche Ge fühle sich nur scheu äußerten. Als Wuttke vom Urlaub zurückgekehrt war, wagten wir kaum, mit ihm zu reden, aus Furcht, die frische, schmerzhafte Wunde zu berühren. Und er selbst war erst recht still. Es sah ihn niemand weinen. Es sah ihn auch lange Zeit niemand lachen. Im Unterrichte staunten seine Augen nicht mehr, er fragte nichts und meldete sich kaum zu Antworten. Die Lehrer meinten wohl, ihn zu schonen, indem sie ihn nicht zu reden veranlaßten, wenn er selbst nicht wollte. Wuttke hatte schon ein Jahr lang ein Stipendium er halten. Dies wurde jetzt auf den Höchstbetrag festgesetzt. Es sollte eine Guttat an die ganze Familie sein. Denn wenn seine Eltern auch fleißige und sparsame Leute waren und ihre Wirtschaft vorwärts gebracht, durch Erweiterung der Gebäude und Zukauf einiger Feldstücke sogar ver größert hatten — weswegen sie bei den Dorfgenoffcn, den ! Großbauern des Eigen, besonders geachtet wurden —. Schätze konnten sie bei der Minderzahl nicht gesammelt haben, und der Tod des Vaters konnte auch ein wirtschaft liches Unglück nach sich ziehen. Um seiner Mutter in ihrer Not beizustehen, fuhr oder wanderte Wuttke von nun ab jeden Sonntag heim. Am Montage zeigte er sich dann immer müde und teilnahms los. Er hatte früher gern und anschaulich von der mannig faltigen Arbeit in Hof und Feld erzählt, er hatte wie Kei ner das heimatliche Pflanzen- und Tterleben gekannt und geschildert, und die Lehrer tonnten sich denken, wie er jetzt in der Welt, aus der er gekommen, seine gesunden Kräfte betätigte. Ein guter Sohn seiner Eltern nnd seiner Scholle. So ließen sie ihn ruhen. Die schriftlichen Arbeiten wurden lässig und zur Öfter prüfung schnitt Wuttke bedeutend schlechter ab als bisher. Da versuchte es denn der eine und andere der Lehrer, die Gefahr erkennend, den Unglücklichen wieder anzuspornen, aufzustraffen, ihn auch einmal härter anzufassen. Aber jetzt fühlte man deutlich, wie es sich in ihm wehrte. War er des Mittuns ganz entwöhnt? Hatte ihn der Schmerz so nicdergewvrfen? Oder war es doch Trotz, dessen wir ihn nie fähig gehalten? Mit gleichgültiger Miene nahm er Vermahnung, Tadel, Strafe hin. Wurde ein Lehrer durch dies unbegreifliche Verhalten zu Scheltworten gereizt, da lächelte er sogar. Und dieses Lächeln glich nicht seinem früheren, man erkannte cs nur daran, daß die Lippen ganz schmal wurden, die Mundwinkel sich znrttckzogen und mit ein wenig Schaum füllten, und ein paar flache Fältchen bildeten sich darum. Die Augen aber blickten erregt und stumpf zugleich. Die Empfindungen verrieten sich nicht. Schließlich war im Unterrichte nicht mehr viel mit Wuttke auzufangen. In den Studierstunden jedoch schien er eifriger denn je zu arbeiten. Auch tu den Freistunden sah man ihn nie ohne ein Buch. Allerdings widmete er sich einer Lektüre, die ihm sofort verboten worden wäre, hätte er sie einen Lehrer bemerken lassen. Er las — weiß der Himmel, wie er darauf verfallen! — Haeckels „Welträtsel". Er duldete keinerlei Störung. Wer ihn irgendwie am Lesen hinderte oder hänselte, der bekam, wenn er nicht flink entwischte, die derbe Faust des Bauernbnrscheu zu spüren. Er verstand keinen Spaß mehr. Nur mit einigen Kameraden pflegte er, beim Wandeln durch den schönen Garten der Anstalt oder auf kurzen Spaziergängen durch die Einsamkeit der Felder, sich über den Gegenstand seines Studiums auszusprechen. Zn den Anserwühlten gehörte ich. Und ich allein nahm ihn ernst. Mir lieh er daher auch die „Welträtsel". Die Ränder der Druckseiten waren vollgeschriebeu, wo sie nicht ausgereicht hatten, fanden sich die Bleistiftanmcrknugen sogar zwischen den Textzeilen. Während ich dies Buch las, arbeitete er das Werk ..Monismus" durch. Aus der Bibliothek verschaffte er sich Wörterbücher, Geschichte» der Philosophie und andere Hilfsmittel, um Haeckel zu „fressen". Er las auch die Zeitschrift, die ich hielt, den „Charon", hörte mein weltschmerzliches Bersgestammel an und war mein Kritiker. Aber damit nicht genug! Eines Tages zeigte er mir umfangreiche Niederschriften, die den Grund eines eigenen philosophischen Systems bilden sollten. Heute weiß ich nur noch, daß Materialismus und Pessimismus die Hauptmerk male dieses begonnenen Werkes waren. Und eine Äußer lichkeit fiel mir auf, der ich erst sehr viel später Bedeutung beizumessen verstand: Wuttkes Handschrift hatte sich ge ändert. Sie war steil und stachlig, die Feder war wie zum Unterstreichen gehalten worden. Die Buchstaben verbanden sich nicht, zeigten sich eigenwillig. Manche schienen wie ge zeichnet, andere hakten Schwung, und diese Gefallsüchtigen paßten nicht zu den stachligen Brüdern. Kurz, auch die