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und Straßen von Kamenz jagte und bis aus wenige Häu ser und Bauwerke die ganze Stadt in Asche legte, hat auch das Geburtshaus Lessings mit vernichtet. Ein Gedenkstein in einem kleinen Garten zeigt heute dem Besucher von Kamenz, der sonst in der Stadt wenig Erinnerungen an den Dichter des „weisen Nathan" finden wird, die Stelle an, wo einst der Knabe Lessing im engen Vaterhaus seine ersten Jugendträume spann, neben einem großen Stapel Bücher saß und soviel Wissen auf einmal aufnehmen wollte,- so, wie ihn das bekannte Kinderbildnis mit seinem Bruder im Lessingstift in Kamenz darstellt. Beim Betrachten dieser schlichten Stätte mit der Tafel, an die der Wind den Regen peitscht, steigt ein Wintertag in der Erinnerung der Lebensgeschichte des großen Sohnes der Lausitz auf: ein Wintertag mit Schnee und grimmiger Kälte und fröhlichem Aufjauchzen von Kindern, die sich auf der steilen Straße am Pulsnitzer Tor mit Schlitten fahren vergnügen. Da rumpelt die Postkutsche durch das Stadttor. Ein blutjunger Mensch in dünnen Kleidern ent steigt ihr mit besorgtem Gesicht und der bangen Frage auf den Lippen: wird die Mutter noch am Leben sein? Um ihretwillen rief ihn der Vater, der gestrenge Pfarrer von Kamenz, Pastor primarius Johann Gottfried Lessing, der sich im Nebenamte mit dem Verfassen von Chorälen und rührend komischer Verse und Sprüche beschäftigte, aber auch gelehrte theologische Schriften schrieb, mit Eilpost von Leipzig, wo er sich, der junge Herr Sohn, auf die Gottes gelehrtheit und das Amt eines würdigen Lausitzer Pfarr- Herrn vorbereiten sollte, in Wirklichkeit aber tanzte, focht, Komödiantenstücke schrieb und mit höchst berüchtigten Per sonen, wie der Neuberin und ihren leichtlebigen Gesellen, Umgang pflegte. Er eilt das Pfarrgäßlein, das heute sei nen Namen trägt, hinauf, mit hochroten Backen, stürmt in das Haus — und findet die ganze Familie, wohl in Äng sten um ihn, aber gesund um den Tisch versammelt. Und schließlich klärtj sich alhes auf. Der um das Leben des jungen Kandidaten besorgte Kamenzer Pfarrherr hat eine Todkrankheit der Mutter vorgeschützt, um die Heimkehr und die Bekehrung des angeblich verlotterten Herrn Soh nes, von dem ein Kamenzer Kaufherr, der ihn in Leipzig zur Neujahrsmesse getroffen, tolle Sachen zu erzählen wußte, zu erreichen. Die Kirche St. Marien mit ihrem gewaltigen Turm und hohen Dächern ist nicht nur ein Schmuckstück der Stadt, auf das die Kamenzer mit Recht stolz sein können, es ist ein Juwel der ganzen Lausitz. Man sieht es der in heimischem Granit erbauten Kirche an, daß sie einst noch mehr war als ein frommes Gotteshaus, daß ihr Turm in früheren Zeiten auch als Kickturm und ihr starkes Mauerwerk als eine Art Bastion diente. Vor Jahren — an einem Frühlingsabend — habe ich zum ersten Male das Innere dieser eigenartigen Kirche betreten, die in Gewölben, Chören, Logen, bunten Glas fenstern und Schnitzereien wogt,- an einem seltsamen Früh lingsabend, an dem ein Wunder sich an das andere reihte. In dem alten Kirchengestühl saßen dicht gedrängt die Bür ger der Stadt und lauschten der Musik eines Johann Sebastian Bach, die von der hohen Orgelempore brauste, durch den weiten, oft geteilten Kirchenraum zitterte und durch die bunten Butzenscheiben hinaus in den mondhellen Frühlingsabend drang und um die alten Gräber schwebte. Eine reiche Geschichte ist mit dieser prächtigen Kirche auf granitener Höhe verknüpft, in der einst der Vater Les sing seine Bußpredigten auf die Köpfe der „boshaften Cam- zer", der Tuchmacher, Leineweber und Töpfer, herabwet terte. Und hinter dieser Kirche, wo hinter den Grabsteinen die alte Stadtmauer bröckelt, steht unter alten Akazien eine Steinbank. Hier, neben der sich ängstlich an die Stadt mauer hängenden Katechismuskirche mit den schlanken Strebpfeilern und Schießscharten, ist der schönste Platz der Stadt, an deren Mauerwerk die Hussiten stürmten und die Burg der Stadt zerstörten, und an der einst die Plan wagen der Kaufherren von Osten auf der berühmten „Hohen Straße" nach Leipzig und weiter nach dem Westen Deutschlands vorbeizogen. In nebelgraues Land schweift heute unser Blick von dem Altan, der Wind peitscht die Zweige der Akazien wild aneinander und melancholisch rinnt und tropft der Regen von dem hohen Kirchendach. Der Efeu der Grüber zittert und welke Kränze rascheln geheimnisvoll. Detlev von Liliencrons Verse kommen mir in den Sinn: „Der Tag ging regenschwer und sturmbewegt, ich war an manch ver gessenem Grab gewesen. Verwittert Stein und Kreuz, die Kränze alt, die Namen überwachsen, kaum zu lesen." Menschenleer und öde sind die Straßen und bergigen Gassen, die zum Markte führen. Sie haben wenig Schön heit aufzuweisen. Die vornehmen Bürger- und AmtS- häuser mit reichen Zieraten an Fassaden, Türen und Por talen, Tore und Türme, die andere Städte des einstigen Sechsstädtebundes der Oberlausitz, wie Bautzen, Görlitz und Lauban heute noch mit Stolz nachweisen, hat in Kamenz des Feuers wilde Gier gefressen. Wenig ist geblieben. An einer Marktecke schmückt ein alter Ziehbrunnen den weiten Platz. Der Bürgermeister Dr. Andreas Günther ließ ihn 1548 errichten. Später, 1870, erhielt der Brunnen den auf drei Säulen ruhenden Überbau, der einem Galgen gleicht und den eine Statue, die Gerechtigkeit darstellend, abschließt. Von dem Grund der Errichtung dieses Brun nens wird eine merkwürdige Geschichte erzählt, von der man nicht recht weiß, ob sie Sage oder Wirklichkeit. Das hohe, nach dem Stadtbranöe von 1842 in italie nischer Renaissance erbaute, stolze Rathaus nimmt sich fremd und eigenartig zwischen den in heimischer Bauweise ausgeführten Markthäusern aus und gehört eigentlich nicht in diese Lausitzer Stadt. Im „Goldenen Hirsch" an der Südostseite des Marktes hängen wir unsere Mäntel und Hüte zum Trocknen auf. Der „Goldene Hirsch" ist so etwas wie ein Wunderkind in Kamenz. Schon beim Eintreten erfährt man es, daß das Haus „unter besonderem Schutze" stehh. Selbst bei dem großen Stadtbrande 1842 wurde es verschont. Und der Zauber der Vergangenheit flüstert in den Räumen. Kur fürst Johann Georg I. hat hier 1621 gewohnt, während in Kamenz der Landtag abgehalten wurde, an dessen Eröff nung, einem heißen Julitage, ein weißes Wolkenkreuz am Himmel stand und ein Regenbogen sich über dem Rathause wölbte. Dieser Himmelszauber an diesem Tage muß auf die Kamenzer Bürger einen tiefen Eindruck gemacht haben,- denn eine Reihe Volksdichter haben dieses Ereignis sogar in poetischer Weise festgehalten. Eines dieser Gedichte erzählt: „In Camenz ging der Landtag an. Ein weißes Kreuz sah man am Himmel stahn. Kreuz haben die Frommen überall, Doch weils weiß ist, ists gut getan. Als der Landtag aufhöret gemach, Man einen schönen Regenbogen sah Über dem kuerfürstlichen Haupt, Der uns Gottes Gnade bedeut, Denn da die Sündflut war verschossen, Der Regenbogen auch Gottes Bund geschlossen. Hilf Gott, daß auch zu allem End Sich all Unfall und Jammer wend." In diesen Tagen des „Camenzer Landtages" glich der „Goldene Hirsch" einem fürstlichen Schlosse. 14 Jahre später wurde der „Goldene Hirsch" der Schauplatz eines Mordes. In einem Duell erstach der Sohn des damaligen Bürgermeisters einen Prediger aus Großgrabe, namens Prätorius. Und 1729 veranstaltete der Diakonus Lessing anläßlich der Taufe seines Sohnes Gotthold Ephraim den Taufschmaus im „Goldenen Hirsch".