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eine andere Stadt im Stiftsgebiete Meißen mit seiner Fehde zu belästigen. In der Stadt atmete man auf, pries die tapferen Ver teidiger und war des leichten Sieges um so froher, da weder ein Verlust an Menschenleben noch anderweitiger Schaden zu beklagen war. — Die Marienbrüder in ihren düstergrauen Kutten schrit ten aus ihrer Propstei bei der Frauenkapelle herüber und sammelten sich vor des Kämmerer Birckners Haus, dem schmalen Särglein mit brennenden Kerzen das Geleit zu geben. Niemand in dem langen Trauerzuge vermutete da mals, daß die Brüderschaft Unserer Lieben Frauen zum letzten Male ihres feierlichen Totenamtes waltete, ehe ihnen der scharfe Wind der Reformation die Kutten her unterriß und die geweihten Kerzen ausblies. Langsam, ge tragen von Sem eintönigen Auf und Ab der leisen Trauer gesänge, bewegte sich der Zug über den Markt. Die Glocken schwangen in summend dumpfen Tönen über die Köpfe der Leidtragenden hinweg. Eine große Menge hatte sich ein gefunden, dem Sohne Jakob und Donate Birckners das letzte Geleit zu geben. Dong — ding — ding — dong, dong, dong Wuchtiger und wuchtiger hallte das Geläute von St. Ma rien, je näher der ungefüge über dem Kirchenportal auf wachsende Turm rückte. Schon wurde das weit offene Kirch hofstor sichtbar, da schwieg plötzlich die tiefste Stimme im Glockenakkord. Bevor noch das Ohr die Lücke empfand, sauste mit rasender Schnelligkeit ein metallener Klumpen durch die Luft und bohrte sich durch seine Schwere tief in den Boden ein. Der eherne Klöppel war mitten im An schlägen aus der großen Glocke gesprungen und drei Schritte seitab des Leichenzuges uieöergefallen. Der Schreck über den streifenden Finger des Todes durchrieselte alle. Hernach wurde bei vielen der Gedanke laut: Sollte dies Begebnis, dabei wie durch ein Wunder niemand verletzt wurde, nicht ein Zeichen der Vorbedeu tung sein? Donate blickte mit wissenden Augen zu der stumm ge wordenen Glocke hinauf,' doch weder ihr Antlitz noch ihre gramverzogenen Lippen verrieten eine Bewegung. Ihre Seele war ein Tränenbrunnen, so tief, daß ein hinein geworfener Stein die dunkle Oberfläche nicht zu entglätten vermochte. — Eine Woche später wurde Jakob Birckner durch die Bitte der trauernden Donate überrascht, sie auf den Turm zu der klöppellosen Glocke zu führen. Birckner argwöhnte, Donate würde auch diesen Gang nur dazu gebrauchen, sich das spitze Messer des Schmerzes noch tiefer ins Herz zu drücken. Doch war er so beglückt von diesem winzigen Zeichen wiedererwachender Anteilnahme seines Weibes, daß er ihrer Bitte von Herzen gern willfahrte. Zuhöchst im Glockenstuhl stand Donate und reckte die zarten Glieder, bis sie das kühle Erz erreichen konnte. Ihre Hände fuhren das schimmernde Rund entlang, während der Mund lautlose Worte formte. Jakob sah ihr eine Weile zu, dann drängte er besorgt zur Rückkehr. Sie folgte, noch ehe er ausgercdet hatte und stieg so eilends die schlüpfrigen Weudelstiegen hinab, daß er Mühe hatte, sie einzuholen. Ain engen Mauerfenster sand er sie, wett hinausgelehnt, mit leisem Nicken verzückt in die schaurige Tiefe starrend, als ob sie Antwort gebe einem beseligenden Ruf. Birckner sagte nichts, faßte seine Frau fest um und lockerte den Griff nicht eher, bis er sie halb getragen, halb gezogen ins Haus heimgebracht hatte. Sie las den schmerzlichen Vor wurf aus ihres Mannes ernsten, blauen, unendlich guten Augen, wandte sich ab und erwiderte mit keinem Wort und mit keiner Gebärde. Ruhelos und schweigsam wie ein Schatten trieb Donate in ihrem Hause umher, dessen lächelnde Sonne sie einst ge wesen. Es schien, als lägen zwischen diesem Einst und dem Heute undenkliche Zeiträume, welche die arme Mutterseele vergebens zu überbrücken strebte. Jakob Birckner rang tapfer seinen eignen Vaterschmerz nieder, um seiner Frau von der übergroßen Trauerlast zu helfen, die ihre Schultern nicht aushielten. Mit Grausen sah Agnes immer deutlicher, daß der Tod, der das blühende Kinderleben zerschlagen hatte, damit auch der Mutter Herz traf, daß es kein Wiederaufrichten gab. Agnes vergaß ihre eigene Beschwerde und bangte für die Freunde und ihr vernichtetes Glück. Zu enge wurden Donate die leeren Stuben ihres Hau ses, und wenn sie nicht an dem nun schon schneeverwehten Grabhügel weilte, irrte sie ohne Grund und ohne Ziel in der Stadt herum. Einmal geriet sie unversehens in die kurze Sackgasse, die beim Kamenzer Tore endigte. Eine schwarze, schwarz verhangene Kutsche hielt davor, von Dienern in schwarzen Wämsern begleitet. Donate hörte aus dem Innern des Wagens eine müde Frauenstimme die mürrische Torwache fragen: „Geht hier der Weg nach Marienstern?" Dann öffneten sich knarrend die Flügel des alten, bau fälligen Tores, und das Gefährt rollte hinaus in die Finsternis. Benommen schritt Donate heim. In ihrem Herzen hatte ein Licht aufgestrahlt, Stella Mariae, Marienstern. Hatte sie jetzt das Ziel erkannt, dem Gott sie zuführen wollte? So sprach Donate Birckner zu ihrem Gatten: „Seit mein und dein Kind von uns gerissen wurde unter Qualen, habe ich zu Gott geschrien, warum das alles so bitter und furchtbar über uns kommen mußte. Dreimal habe ich ge glaubt, daß ich der Prüfung Sinn gefunden Hätte, aber erst beim dritten Male bin ich gewiß geworden, was Gott mit mir im Sinne hat. Damals als der Glockenklöppel herunterschlug, sprach ich zu mir selbst: Nun ist der großen Tönenden die Freu denzunge heraüsgebrochen, daß sie nimmer klingen kann. Also mußtest auch du von dir lassen, was das Leben freude singend machte, und vielleicht mußte es darum geschehen, weil du zu viel fröhlich gewesen bist. Zum andern Mal, als ich vor dir den Turm hinab stieg, war mir es gar, als ob von unten her aus seinem Grabe heraus meines kleinen Martin Stimme nach mir riefe. Als ich mich niederbeugte, zu lauschen, bedachte ich, wie ich mich doch immer so vor dem Tode entsetzt hatte, daß ich an mein eigenes Sterben und das meiner Lieben gar nicht glauben wollte. Und nun, da mir das Kind vor- aüsgegangen war in das unbekannte Land, nun hatte es keine Schrecken mehr, und ich wüßte nicht, wohin ich lieber gehen möchte. Du warst es, der mich zurttckhielt, mein guter Mann, und ich danke dir dafür. Denn abermals mißver stand ich Gottes Willen. Seit heute aber, seit einer Stunde erst, ist mir Klar heit geworden. Sieh, Jakob, unser Kind hat leiden müssen. Aber un gezählte andere Kinder leiden immer noch, in jedem Augen blick und überall. Als ich den Weg erkannte, den zu be schreiten mir bestimmt ist, sind mir auch zugleich die Augen aufgegangen über den Jammer der Kleinen. Fürbitten will ich bei der Himmelsmutter, fürbitten mit jedem Atemzug, bis mir das letzte Wort aus den Lippen erstirbt. Und wenn mein heißes Flehen Gnade finden dürste, um Leid abzuwenden, von nur zehn Kinder einer Mutter, so will ich mit demütiger Freude dennoch mein Leben ein gesegnetes nennen." Innig schlang Donate die Arme um den Nacken ihres Mannes, der Mühe hatte, aufrecht stehen zu bleiben vor dem Schlage, der nun kommen mußte. „Laß mich von dir, Jakob, und verzeihe mir den Schmerz, den ich dir mit meiner Bitte antue. In die betende Schar der frommen Frauen zu Marienstern will ich mich