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Gberlaufltzer Helmaizettung Ar. iS Das Nachtlager Aus Großvaters Erzählungen von E. N i e r i ch - Neukirch „Wilhelm," sagte öer Vater, „stieh ock uhf, wemm'r nwrne wieder heem senn wulln, do miß mr zeitlch abruckn." Dabei zog er dem halbwüchsigen Jungen, der in dem bun ten Himmelbette unterm Strohöache noch fest schlief, das Bett, mit dem karrierten Überzüge weg und stellte das blecherne Rüböllämpchen auf die Truhe. „Hast's g'hurrt," rief er von öer Türe nochmals zurück, dem eine unter Gähnen erstickte Antwort folgte. Zweimal im Jahre unternahm öer „Dießner-Büüe" öiese weite Wanderung vom Orte an der böhmischen Grenze bis ins Preußische hinein, um Holz für seine Bäckerei anzukaufen, war doch dort die Klafter zwei gute Groschen billiger. Die Post kutsche, die wöchentlich zweimal nach Löbau fuhr, war nur für begüterte Leute, da wäre das Holz auch nicht billiger geworden, und weil man das Sprichwort „Zeit ist Geld" noch nicht kannte, so lief er und nahm seinen Sohn mit, einmal, um etwas Unterhaltung zu haben, zum andern aber wollte er ihn als künftigen Erben seines Berufes und Geschäftes einweihen in die Geheimnisse, wie und wo man am billigsten Holz kaufte. Finstre Nacht lag noch auf den niederen Strohdächern, und der Schritt öer beiden Wande rer hallte laut nach öer Dorfgasse. Schwerer Blütendust zog aus den kleinen Bauerngärtchen und wo schon hier und da ein Haus erwachte, blickten die Fenster wie glühende Augen eines großen schwarzen Tieres hinaus in die Nacht. Nachdem sie zwei Dörfer bereits durchschritten hatten, wurde das Dunkel Heller und wich einem bleigrauen Morgendämmer, aus dem die Hellen Giebel der Häuser mit blanken Augen blickten. Schlaftrunken blinzelte ab und zu noch ein Stern, und das purpurne Morgenrot übergoß gar bald den ganzen Osthimmel. Zu Mittag saßen die bei den Wanderer bereits im Niederlande und wickelten unter dem Schatten einer vielhundertjährtgen Kirchhofslinde aus den bunten Sacktücheln Brot und Speck aus und tranken aus dem gesprächigen Dorfbrunnen. Am Nachmittage waren sie am Ziele, hatten billiges und gutes Holz, dicke ktenige Kiesernrollen erstanden und machten sich, nachdem sie sich sogar Brot, Käse und einen Schnaps, natürlich zusammen einen, geleistet hatten, auf den Heimweg. Brach öer Abend heute schon zeitiger herein oder hatte öer Holzhandel doch länger verweilt? Es wurde schon bedenklich dunkel, sodaß die Landstraße nur wie ein bleicher Streif durch die Felder lief, auf der die Beiden jetzt einsilbig dahtnschlurften. „Votr, ich kann ni mih," sagte dr Wilhelm stumpf. „Woart ock, mr sann glei doh;" dabei spähte der Alte in die Dunkelheit. Richtig, dort hob sich die schwarze Silhouette des kleinen Kiesernwäldchens aus der einbrechenden Nacht ab, dort wußte er im Dickicht eine alte Tanne, die mit ihren weit ausgreifenden Asten ein windsicheres Obdach bot, das ihm jedesmal bei seinen Holzeinkäufen das teure Gasthaus er setzte. Doch heute war's schon sehr dunkel, als sie sich tastend durch das Unterholz schlugen. Endlich wuchs der mächtige Stamm vor ihnen auf und verlor sich im schwarzen Nacht himmel. Todmüde streckten sich die zwei, Vater und Sohn, ins weiche duftige Waldgras, hüllten sich in ihre Mäntel ein, und die Stimmen des nächtlichen Waldes vermischten sich bald mit dem gesunden Schlaf zu lieblichen Traum bildern. Schon das Morgenrot hatte verkündet, daß das Wetter wohl bald umzuschlagen drohe, und es mochte gegen Mitternacht sein, als sich ein heftiger Wind erhob, der die alte Tanne schüttelte, daß sie mit ihren schwanken Armen wie Hilfe suchend in die Nacht griff. Fast gleichzeitig er wachten die beiden Schläfer und richteten sich auf. „Votr," „Wilhelm," „hoaste vurrön nischt gehurrt?" „Meenste das Puchn?" „Ja, ja." „'s wird wettr nischt senn, schlof ock." Wieder war es still unter der Tanne. Ein neuer Windstoß fuhr durch die Wipfel, daß man deutlich Aste brechen hörte. Ist Ganz nahe schrie ein Käuzchen, ob es wohl gar auf der Tanne saß? „Hirscht's wieder, Votr?" Oben an dem Stamme des alten Baumes klang es, als ob jemand zwei-, dreimal dran pochte, gerade über den beiden Schläfern. Beide richteten sich auf und versuchten, mit ihren Augen die Finsternis über ihren Köpfen zu durchdringen, aber- vergebens, die dichten Äste bildeten ein undurchdringliches Dunkel, das sich heute mit den geheimnisvollen Lauten fast beängstigend über sie breitete. Abgerissen, stockend tauschten die beiden ihre Vermutungen aus, während draußen der Sturm immer toller tobte, das Pochen über ihren Häup tern säst regelmäßig manchmal weiter, manchmal schärfer wie das Ticken einer langsamen Pendeluhr zu ihnen her unter drang. Ein Specht konnte es nicht sein, der hämmert doch nicht nachts, ein Ast, noch nie hatte der Vater an dem kerngesunden Baume einen dürren Ast bemerkt. „Mr warn's schun morne früh sahn," sagte der Vater kurz und schnitt somit jede Erörterung über das geheimnisvolle Pochen ab. Es war kein Schlaf mehr, nur ein öfters unter brochenes Hindämmern, in dem der Wilhelm einmal un ruhig mit beiden Händen um sich schlug und mit einem Schrei erwachte. Der Sturm hatte nachgelassen, es war ruhiger geworden, dafür aber vernahm man das leise Rauschen des Regens, der in Schauern einsetzte. Zwischen den Stämmen schlich das bleiche Morgengrauen hin. Da dehnten sich auch die beiden Schläfer auf dem Waldgrase, doch beide fuhren entsetzt in die Höhe, als sie über sich das verzerrte Gesicht eines Erhängten erblickten, der fast in Reichweite über ihrem Lager an einem starken Aste hing und durch den im Winde wippenden Zweig mit seinen Stiefeln bald laut, bald leiser an den Stamm geschlagen hatte, als wollte er noch im Tode die Lebenden mahnen: Wachet, seid auf eurer Hut! Grauen ergriff die Beiden, als sie sahen, mit welch unheimlichem Dritten sie unbewußt das Nachtlager geteilt hatten, alle Müdigkeit war ver schwunden, sie rafften ihre Sachen auf und eilten der Landstraße zu, doch wie höhnisch grinste der Tote mit vor quellenden glasigen Augen ihnen nach. Einsilbig wurde im leise nieselnden Regen der Heimweg angetreten, jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt, doch unter der alten Tanne Hat keiner mehr genächtigt. Die 2agd des „Wilden Mannes" Ein alter, halbvergeffener Bolksbrauch Wer weiß noch etwas vom „Jagen des wilden Mannes in Schluckenau"? Wer vermag noch zu erzählen von den eigenartigen Gebräuchen und Aufführungen zu dieser An gelegenheit? — Und doch schilderten während der sechziger, siebziger, achtziger und neunziger Jahre des vorigen Jahr hunderts die bedeutendsten deutschen illustrierten Zeitungen mit anschaulichen Abbildungen das „Schluckenauer Wilde- mannjagen", das von vielen Tausenden aus nah und fern besucht wurde und auf das sich die Bewohnerschaft der Stadt und Umgebung immer drei Jahre lang freute, denn in Fristen von drei Jahren wurde immer der wilde Mann gejagt. Vor 21 Jahren begab sich dies zum letzten Male. Doch Heuer soll es wieder zu neuem Leben erweckt und nach ge wissenhaften, fleißigen und zielbewußten Vorbereitungen mit großem Glanze durchgeführt werden. Was ist nun die Ursache und worauf beruht die Be deutung dieses Volksbrauches in der kleinen nordböhmi schen Stadt Schluckenau? Es lohnt sich, dieser Frage nahe zutreten, denn sie gewährt dem Freunde des Volkstums tiefe Einblicke in die Beziehungen unserer nordböhmischen Heimat zu der Bevölkerung der Lausitzer Gaue im be nachbarten Sachsenlande vor altersgrauer Zeit. — Bautzen und andere der Lausitzer „Sechsstädte", Schluckenau und seine Umgebung, die undurchdringlichen nördlichen böh mischen Wälder und die sagenhafte Burg Tollenstein darin