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Der Flüchtling Bon Franz Rösler, Schirgiswalde Es war an einem milden Herbsttage des Jahres 1809. Da stolzierte der Stadtrichter Adam Reime aus seinem Hause, dem heutigen Gasthause „zum Türmchen", dem Markte zu. Bon allen Seiten riefen ihm die Leute ent gegen: „Ihr Diener, gnädigster Herr Stadtrichter!" Der Stadtrichter fühlte sich gar sehr geehrt, daß ihn die Be wohner so auszeichneteu. Seit er Oberhaupt der kleinen Republik war, trug er sich wie ein Großer. Straff spannte sich die rote Weste über dem runden Bäuchlein. Die silber nen Knöpfe leuchteten schon von weitem. Die langen Rock- schößel wippten im Takte. Im Vollgefühle seiner Würde schritt er durch die krumme Gasse. Auf dem Markte sah er eine Weile dem Frachtwagen zu, der eben ausgeladen wurde. Er redete einen der Frachter an und fragte: „Von wo her kommen wir, mein Freund?" „Von Kottbus." Herr Adam Reime nickte gnädig mit dem Kopfe, emp fahl sich und schritt weiter. Ja, ja, seine Republik wurde allmählich bekannt. Vis von Kottbus kamen jetzt die Fracht wagen. Zwar das Paschen wollte ihm nicht gefallen. In des, es gab kein Gesetz, das den Republikanern verbot, Waren über die Grenze zu befördern. Ungern sah er seine Leute das unsaubere Pascherhandwerk betreiben. Aber es brachte Arbeit und Brot, und in den anderen Ortschaften längs der Grenze trieb man es nicht besser. Der Herr Stadtrichter bog in die Hauptstraße ein und ging nach Sohland zu. Kaum hundert Schritte war er ge gangen, so lag das letzte Häuschen hinter ihm. Noch ein mal hundert Schritte durch die Felder, und er befand sich im Walde, der damals dicht an das Städtchen reichte. Ge dankenvoll stapfte er über den weichen Waldboden. Das Heidelbeerkraut färbte sich gelb und rot, weiße Fäden zogen durch die weiche Septemberluft. Immer weiter schritt der Stadtrichter in den Wald hinein. Jetzt kam er auf einen ausgetretenen Weg, der durch einen Kiefernbusch führte. Leicht stieg er bergan, und nach kurzer Wanderung stand der Stadtrichter auf einem Hügel, Kapellenberg genannt.*) Oben auf seinem Rücken befand sich ein kapellenartiger Bildstock mit einem Mnttergottesbilde. Dorthin wandte er leine Schritte. Allerlei Gesträuch wucherte ringsum, nur bei der Gebetbank war ein freies Plätzchen. Hier gedachte der Staötrichter ein Weilchen zu ruhen. Er streckte sich ins weiche Gras und warf Hut und Stock beiseite. Ein Weilchen hatte der Stadtrichter im Grase vor dem Bildstöcke gelegen. Sinnend schweifte sein Ange über das Städtlein und seine schützenden Berge. Nun drangen die Strahlen der untergehenden Sonne durch das Astegewirr des Kiefernwaldes und tauchten Rinde und Stamm in glänzendes Rot. Kein Lüftchen regte sich. Die Mücken wir belten ihren Svnnentanz. Ruhe überall. Keine Vogel stimme war zu hören. Wie träumt sich's da schön. Weit, weit fort flogen die Gedanken des Mannes, der am Bild stock ruhte. Weit fort, bis nach Wien zum Kaiser Franz. Wie mag's ihm zumute sein. Ganz weh wurde es ihm nms Herz. Auf einmal war es, als hörte er Geräusch. Hastig fuhr er empor und lauschte. Richtig! Hier mußte ein Mensch in der Nähe sein. Ganz deutlich hörte er die schweren Atem züge. Vorsichtig spähte er ins Gebüsch. Er hatte nicht lange zu suchen. Gar nicht weit vom Bildstocke lag ein Mann mitten im Gebüsch und schlief. Rasch griff der Stadtrichter nach seinem Stock und näherte sich dem Schläfer. Gar viel Gesindel trieb sich damals in den Landen herum. Deser teure, Diebe, Nichtstuer machten die Gegend selbst bei Tage unsicher. Also, Vorsicht! Viel war von dem Schläfer nicht zu sehen. Gut versteckt hatte er sich. Das mußte der Herr Stadtrichter zugeben. Der heutige Kieferberg. „Ich muß wissen, was für ein Individuum das ist," murmelte er. Er stocherte mit dem Stock auf den ständigen Stiefeln herum und rief mit barscher Stimme: „Heda! Aufgewacht! Aufgestanden! Vorwärts!" Der Herr Stadtrtchter hätte gar nicht so viele Worte nötig gehabt. Schon beim ersten Anruf war der Schläfer in die Höhe geschnellt. Das Gezweig schlug ihm ins Ge sicht. Ein verbranntes Männerantlitz mit großem schwar zem Vollbarte wurde sichtbar. Hastig arbeitete sich ein hagerer Mann ans dem Gebüsch. Schlotternd hingen ihm die arg verschossenen Kleider nm den Leib. Sein Gesicht verriet Angst und Schrecken, der Mund stammelte fremd klingende Worte. Der Stadtrichter war unwillkürlich einige Schritte zurückgetreten. Er hatte den Stock wie zur Abwehr erhoben, ließ ihn aber gar bald wieder sinken, als er merkte, wie ängstlich der Fremde ihn anblickte. Dieser Hatte sich durch die Sträucher gearbeitet und stand nun vor dem Störer seines Schlummers. Kaum wagte er die Augen zu erheben. Er zupfte verlegen seinen Rock zurecht und strich sich mit den Händen durch das wirre, kohl schwarze Haupthaar. Verwundert hatte der Stadtrichter das Beginnen des Mannes beobachtet. Soviel erkannte er sofort: Dieser Mensch war kein Strolch. Aber was schwatzte er denn eigentlich? Kein Wort verstand der Stadtrichter. Deshalb herrschte er ihn an: „Wer bist Du? Was willst Du hier?" Der Fremde machte ein paar Verbeugungen und sprach langsam mit wohlklingender Stimme: „O monsieur! Pardon! Mon dien. Ick nicht wissen, wo ick sein." „Oha," dachte der Stadtrtchter, „sicher ein französischer Deserteur". Laut fuhr er fort: „Was suchen Sie Hier?" Wieder verbeugte sich der Fremdling und antwortete unsicher: „Pardon, monsieur. Ick sein nickt eine fleckte Mann. Ick bitte nicht zu verraten mich. Ich sein geflüchtet ans Frankreich, meine Vaterland." „Wie ist Ihr Name?" stieß der Stadtrichter rasch heraus. „Monsieur," begann jener bescheiden, „ick nicht sprecke gilt deutsch. Ich bitte zu sprecken sehr langsam." „Ich will wissen, wie Sie heißen!" sagte der Stadt richter scharf betont. Die Augen des Fremden leuchteten ans. Er hatte verstanden nnd antwortete: „O, ick heißen Pasterelli, Jean Pästerelli." „Was sind Sic?" „Ick sein ein Priester." Ungläubig sah der Stadtrichter den Fremdling an. Dieser verhärmte, wettergebrä'untc Mann wollte ein Prie ster sein? Fast hätte er gelacht. Aber der flehende Blick des Fremden ließ ihn die spöttische Miene, die er im Be griffe stand, zu zeigen, unterdrücken. Er musterte den zitternden Mann vom Scheitel bis zur Sohle. Diese Klei der! Hm! Die passen nicht für einen Priester. Und der große, verwilderte Bart? Nein! Das kann kein Priester sein. Da fiel sein Blick auf die Hände des Fremden. Sie waren sein geformt. Arbeitsfinger waren es keinesfalls. „Solche Hände hat kein Strolch und kein Soldat," sprach er zu sich. Der Stadtrichter musterte den Fremden aber mals aufmerksam. Unter seinen forschenden Blicken sank der arme Mann förmlich zusammen. Er blickte ihn hoff nungslos an. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Als dies der Stadtrichter merkte, wurde ihm weich ums Herz. Vielleicht sprach der Fremde doch die Wahrheit. Plötzlich fiel ihm ein, daß der Franzosenkaiser ja Tau sende von Priestern, die ihm nicht zu Willen waren, in das Gefängnis geworfen oder in die Verbannung gejagt hatte. Aber bis hierher in diese Gegend konnte doch wohl unmöglich ein Flüchtling aus Frankreich kommen. Was