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^Christnacht in Rothwasser OL. as Licht des kurzen Wintertags beginnt zu verblassen. Vom Turm der Dorfkirche hallen in langen Ab ständen vier Schläge herab. Kaum sind sie ver- klungen, da fangen zwei Glocken Hellen Mundes an über das Dorf zu rufen. Sie künden alt und jung, daß es Zeit ist, sich zu rüsten, da in einer Stunde des Jahres schönste Feier, die Christnacht, im Gotteshause beginnt. Es scheint fast, als kommen sie mit ihrer Mahnung zu spät, denn schon kann man sehen, daß die zur Kirche führenden Wege sich beleben. Kinder und alte Mütterchen sind die ersten, die den Gang zur Christnacht antreten. Sie wissen, daß es später für sie nicht mehr möglich ist, in dem sonst zu geräumigen Gotteshause ein Plätzchen zum Sitzen und zum Schauen zu erhalten. Mehr und mehr beleben sich die Straßen: ein wahrer Wanderzug bewegt sich zu der Stätte der Christnachtfeier, die sich rasch füllt. Alle Schichten der Bevölkerung, alle Lebensalter bis zum Jähr ling herab sind gekommen. Zu beiden Seiten des Altars ragen mächtige Weihnachtsbäume, mit vielen strahlenden Kerzen besteckt, und auf den Bänken und Emporen flammen immer mehr Lichter auf, die von den Leuten, vor allem von den Kindern, zur Christnacht mitgebracht wurden. Bald ist die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt, und noch immer strömt es durch die Eingangstür herein. Da schlägt die Turmuhr die vollendete fünfte Stunde, und schon heben alle drei Glocken des Turmes an, den Beginn der Christfeier in den stillen Abend hinauszurufen. Da öffnet sich die dem Altar gegenüber liegende Hintere Tür der Kirche, und unter den Klängen der einsetzenden Orgel bewegt sich ein langer Zug den Mittelgang des Kirchenschiffes entlang aus den Altar zu. Voran schreitet der Geistliche. Ihm folgen weißgekleidete Mädchen, wohl 60 oder 70 an der Zahl. Jedes der Mädchen trägt in den halb» erhobenen Händen einen Wachsstock, aus dem wie aus einem Sockel eine Kerze emporragt. Der Zug bewegt sich bis zum Altar, vor dem der Geistliche stehen bleibt, während sich die Mädchen, das Gesicht zur Gemeinde gewendet, rechts und links im Altarraum in Reihen aufstcllen und ihre Kerzen entzünden. Hinter den Mädchen folgt im Zuge eine lange Reihe von Knaben, deren jeder seinen Christleuchter trägt, einen hölzernen Armleuchter mit einer Fußplatte, der mit seinen vielen, nach der Spitze zu kürzer werdenden Armen in seiner pyramiden artigen Gestalt einem Weihnacktsbaum von '/- bis Meter Höhe vergleichbar ist. Uber und über ist er mit silbernem und buntem Flitterwerk behangen und trägt bis zu 20 Lichtern. Mit diesen Lichterbäumen verteilen sich die Knaben in dem Längs- und Quergang des Kirchenschiffes und setzen ihre Christleuchter auf die dort aufgestellten Bänke nieder. Bald sind alle Lichter entzündet, und nun erstrahlt das Gotteshaus im Schein von vielen hundert Kerzen. Eine alles überstrahlende Lichtfülle geht von dem mächtigen Kreuz aus, das die neben- einanderstehenden Christleuchter durch das ganze Kirchenschiff bilden. Da schweigt das Orgelspiel, und in das frohe Be trachten dieses Lichtmeeres hinein ertönt vom Altar her die Stimme des Geistlichen, die daran gemahnt, daß wir uns an heiliger Stätte befinden und auch in dieser aus dem Rahmen der sonstigen Gottesdienste herausfallenden Feier die Würde des Gotteshauses zu wahren haben. Dazu eine Bitte an die Erwachsenen, mit ruhiger Überlegung da einzugreifen, wo durch eine Feuersgefahr Schaden entstehen könnte. Dann setzt die Orgel zu kurzem Vorspiel ein, und nun braust durch die Kirche der vielhunderistimmige Gemeindegesang der Liedstrophe: „Dies ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit", woran der- Geistliche das zu den Hirten ge sprochene Engelwort der Weihnachtsgeschichte „Siehe, ich ver- kündige euch große Freude" anschließt. Kaum ist es ver- klungen, da stimmen die Im Kirchenschiff stehenden Kinder in dreistimmigem Chor das aus dem 17. Jahrhundert stammende Volkslied von der Weihnachtsnacht „Lieb Nachtigall, wach aus!" an. Frisch und hell schallt der Gesang der Kinderstimmen durch den Kirchenraum: ein einziges Jauchzen über das Er- scheinen des Christkindes: „Sing dem teuren Lhristkindlein!" Ihm folgt aus dem Munde des Geistlichen ein Dankgebet zum Herrn im Himmel, dafür, daß er den Heiland in die Welt gesandt hat. Und dann erklingt aus der Orgelempore der Gesang eines Gemischten Chores: „Heilge Nacht, auf Engelsschwingen nahst du leise dich der Welt," das Lied, das an dem Fest der Liebe die ganze Menschheit zu Friede und Liebe ruft. — Ist so die heilige Nacht mit singendem Jauchzen und betendem Dank begrüßt worden, so werden nun die Ge- danken rückwärts gelenkt bis in die Zeit des alten Bundes zurück, da die Propheten das Kommen des Heilands voraus sagten. Die Hellen Kinderstimmen der Konfirmandinnen, die in den zu beiden Seiten des Altars stehenden Mädchengruppen die vordersten Reihen innehaben, verkünden, was die Propheten vom Kommen des Herrn gesagt haben, von der ältesten, in der Sündenfallgeschichte enthaltenen Weissagung an. Da- zwischen stimmt die Gemeinde das Weihnachtslied „Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket ihr englischen Chöre" an, und der Chor der Kinder setzt das Jubeln fort: „Jauchzet, ihr Himmel, froh- locket ihr Enden der Erde". Auch der Gemischte Chor stimmt in den Jubel ein mit dem vierstimmigen Bach Choral „Ich freue mich in dir und heiße dick willkommen" — bis nach der .letzten Weissagung „Siehe, dein König kommt zu dir" aus dem Munde aller unser herrliches Weihnachtslied „O du fröh liche, o du selige Weihnachtszeit" erschallt. Das Lied ist ver klungen, und nun ertönt vom Altar her aus Kindermund, wie vorher die Reihe der Weissagungen, die alte liebe Weihnachts geschichte, wie sie uns Lukas in seinem Evangelium gegeben hat. Nach ihrem ersten Abschnitt, der uns von der Geburt des Heilands im Stalle in Bethlehem berichtet, klingt die Weih- nachtsweise aus .Es ist ein Ros' entsprungen", vorgetragen als Duett nach dem polyphonen Satz Walter Hensels, des Erneuerers unserer Singweise. Daran schließt sich das gemein sam gesungene Lied „Stille Nacht, heilige Nacht". Die Weih nachtsgeschichte spricht weiter von der Verkündigung des großen Ereignisses an die Hirten, und der dreistimmige Kinderchor fällt ein mit dem Verse „Sehet dies Wunder, wie tief sich der Höchste hier beuget". Und nun kommt das Gewaltigste und Eigenartigste der Christfeier, das sich Jahr für Jahr wiederholt, der Umgang. Während die Gemeinde das Lutherlied „Ge lobet seist du, Jesu Christ" anstimmt, nehmen die Knaben ihre Christleuchter auf und schreiten damit auf den Altarraum zu, durch ihn hindurch zu dem neben dem Altar liegenden Sakristei eingang, um auf der anderen Seite des Altars wieder zu er scheinen. Wie eine riesenhafte Lichtkctte bewegt sich der Zug durch den Längsgang der Kirche, umgreift den Altar und schließt sich um ihn zu einem lichten Kranze von Hunderten von Kerzen, öffnet sich allmählich wieder und kehrt auf seinem Gange durch die ganze Kirche zurück zur Form des Kreuzes, die er vorher innehatte. An die Knaben schließen sich die Mädchen mit ihren brennenden Lichtern an, umschreite» gleich, falls den Altar und kehren wieder auf ihre Plätze zurück. Ein Bild von unauslöschlicher Wirkung, ganz besonders für den, der dies Lichtfejt zum erstenmal erlebt. Ich habe gereifte Männer gesehen, denen die Tränen mit elementarer Gewalt in die Äugen schossen. — Der Umgang ist beendet. Aus Mädchenmund tönt der letzte Teil der Weihnachtsgeschichte an unser Ohr: die Hirten finden das Kind und beugen anbetend ihr Knie. Hier stimmt der Kinderchor das nach einem allen böhmischen Volkslieds bearbeitete „Kommet, ihr Hirten" aß, ausklingend in die hoffnungsreichen Worte „Nun soll es werden Friede auf Erden, den Menschen allen ein Wohlgefallen. Ehre sei Gott!" Währenddessen hat sich aus der vordersten Bank eine Gestalt gelöst, die bisher ganz in den Hintergrund getreten war, der Geistliche. Er schreitet zum Altar und bringt nun seiner Gemeinde in einer kurzen Änsprache seine Meih- nachtsgabe dar. Nur einige Minuten spricht er, aber die Herzen der Hörer sind so lichterfüllt und ausnahmefreudig, daß die wenigen Worte genügen, um bleibenden Eindruck zu